Erich Jud ist einer von ihnen. Eine von rund 30'000 Privatpersonen, die in der Schweiz als Beistand oder Beiständin die Interessen von Menschen vertreten, die es selber nicht oder nur teilweise können. «Wissen Sie», sagt der ehemalige Gemeindepräsident von Schänis SG, «ich habe selber schon alle Facetten des Lebens gesehen.» Das sei zwar nicht zwingend nötig, um der Aufgabe als Beistand gewachsen zu sein. «Aber es hilft.»

Was sicher auch hilft: Erich Jud war als Gemeindepräsident 18 Jahre lang Präsident der Vormundschaftsbehörde, auch später noch, als sie regionalisiert wurde. Mit dem ganzen Vormundschaftswesen, wie es früher hiess, kennt er sich also bestens aus.

Vor drei Jahren ist Jud in Pension gegangen. Er könnte sich eigentlich zurücklehnen, doch so einer ist er nicht. Gleich beim Rücktritt meldete er sein Interesse an, als Beistand Mandate zu übernehmen. «Ich habe mir geschworen, mich nicht mehr in die Lokalpolitik einzumischen. Aber ich will schon noch etwas Sinnvolles tun.»

Wie Jud geht es vielen privaten Beiständen: Sie möchten einen Beitrag leisten, der Gesellschaft etwas zurückgeben oder ihre Angehörigen unterstützen. Viele private Beistände kennen die zu unterstützenden Personen gut oder sind gar mit ihnen verwandt. Der Vorwurf, das vor drei Jahren eingeführte neue Kindes- und Erwachsenenschutzgesetz sei nicht bürgernah, trifft zumindest auf die Beistandschaften im Bereich Erwachsenenschutz nicht zu. Dort ist man angewiesen auf private Mandatsträger oder PriMas, wie sie im Jargon heissen. Sie sind mit etwa einem Drittel der rund 83'000 Massnahmen betraut. Im Kanton Zug – nur aus diesem liegen genaue Zahlen vor – sogar mit 70 Prozent.

Das war schon so, bevor das neue Gesetz in Kraft trat und die heute oft und heftig kritisierten Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) ihre Arbeit aufnahmen. Und es soll auch so bleiben. Der Bundesrat hielt in der Botschaft zum neuen Recht fest, die gesellschaftliche Solidarität solle Bestand haben, trotz der Professionalisierung.

PriMa Erich Jud findet das wichtig, obwohl zu viel Nähe auch heikel sein könne: «Wenn Angehörige als Beistände amten, kann das in der Familie Unfrieden stiften.» Er ist nicht verwandt mit den drei Personen, die er betreut, kennt sie aber teilweise schon lange. Eine gewisse Nähe sei wichtig, um den Willen der Betroffenen erspüren zu können, findet Jud. «Früher war vielleicht nicht jeder Entscheid der Vormundschaftsbehörde juristisch korrekt, menschlich aber schon.»

Natürlich habe es auch damals schon Fehler gegeben. Oder Gemeinden, die aus Kostengründen Massnahmen nicht ergriffen, obwohl sie nötig gewesen wären. «Es ist gut, dass es nun eine übergeordnete Behörde gibt, die alles kontrolliert, auch wenn ich die allgemein verbreitete Papiergläubigkeit manchmal übertrieben finde», sagt Jud.

Quelle: Manuel Rickenbacher

 

Genau wie Berufsbeistände müssen auch die privaten Beistände regelmässig Rechenschaft ablegen über ihre Arbeit. Dazu gehören ein Bericht über wichtige Ereignisse im Leben des Betreuten und eine buchhalterisch korrekte Abrechnung mit sämtlichen Quittungen. Ohne Bürokratie ist keine Kontrolle durch die Kesb möglich.

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Nicht alle Beistände freut das, denn es bedeutet Mehraufwand. Und dem einen oder anderen stösst auch sauer auf, dass plötzlich alles schriftlich festgehalten werden muss und dass es für viele Entscheide erst grünes Licht von der Kesb braucht. «Manche fühlen sich selber ein Stück weit bevormundet, nachdem sie jahrelang ihre Arbeit gemacht haben, ohne dass es jemanden interessiert hätte», sagt Karin Anderer. Die im Sozialrecht tätige Juristin führt im Kanton Zürich Schulungen für Beistände durch und muss den privaten Beiständen die Rolle der Kesb immer mal wieder erklären.

Misstrauen bei Eltern von Behinderten

 

Am häufigsten sei Widerstand bei den Eltern erwachsener Behinderter zu spüren, sagt Karin Anderer. Das ist kaum verwunderlich: Sie hatten vor der Gesetzesänderung die sogenannte erstreckte elterliche Sorge inne – und damit vielerorts praktisch das alleinige Bestimmungsrecht über ihre Kinder, auch wenn diese schon erwachsen waren. Mit den Behörden hatten sie kaum je zu tun. Neu sind auch sie Beistände – mit allen Pflichten, die dazugehören. «Manche empfinden es als Misstrauen, wenn die neue Behörde plötzlich Auskunft verlangt über den Jahresverlauf und die finanziellen Verhältnisse», sagt Juristin Anderer. Einige Eltern seien nicht einmal getrennte Kassen gewohnt. «Für sie war es normal, dass die IV des Sohnes oder der Tochter zusammen mit den Einkünften der Eltern auf ein gemeinsames Konto floss.» Im neuen Gesetz steht aber das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen im Mittelpunkt: Geld, das für den Sohn bestimmt ist, soll auch nur für ihn verwendet werden.

Die Einsicht, dass es Kontrollen brauche, sei grundsätzlich vorhanden, sagt Karin Anderer – aber jeweils nur bei den anderen. «Viele sagen, man solle lieber dort hinschauen, wo etwas nicht gut laufe. Doch wie findet man heraus, dass etwas nicht gut läuft, wenn man keinen Einblick erhält?» Es gebe unter den Privatbeiständen jedoch auch solche, für die Kontrollen selbstverständlich sind. «Meist sind es Leute, die auch in ihrem beruflichen Leben damit konfrontiert sind oder waren. Sie bringen diese Handlungs- und Denklogik mit», sagt Anderer.


Zu ihnen gehört Susanne Mathys. Die 54-jährige klassische Sängerin aus Jona SG arbeitete früher als Assistentin in einer Arztpraxis, wo sie auch die Buchhaltung erledigte. Seit 13 Jahren ist sie Beiständin – früher Vormundin – ihrer hochbetagten, dementen Tante, die im Pflegeheim lebt. «Für mich ist es eine Entlastung, dass alles belegt werden muss. Das lässt dann auch keine Fragen offen», sagt sie.

Von Anfang an führte Susanne Mathys für ihre Tante eine doppelte Buchhaltung, wie sie es gelernt hatte. Das ist sogar mehr, als die Kesb verlangt. Doch Mathys bleibt dabei: «Wenn schon, denn schon.» Auch wenn das viel Arbeit bedeutet – zusammen mit dem Bericht über das allgemeine Befinden der Tante und den Jahresverlauf ein ziemlicher Brocken, der Mathys auch immer mal wieder zweifeln lässt.

«Ich habe schon einige Male darüber nachgedacht, das Mandat abzugeben.» Doch dann stellt sie sich vor, wie ein Fremder sich über die Akten beugt, mit ihren Zahlen alles ganz anders macht, als sie es tun würde. Nein, ihre ganze Arbeit aufs Spiel setzen, das wolle sie nicht. «Ich habe das lieber selber im Griff», sagt sie.

Quelle: Manuel Rickenbacher

Doch was, wenn man gar nicht in der Lage ist, auch eine einfache Buchhaltung zu führen? Ist es angebracht, dass die 70-jährige Mutter eines geistig Behinderten, die kaum einen PC bedienen kann, nun ein Buchhaltungsprogramm erlernen muss? Oder dass der Kesb-Mitarbeiter eine Quittung verlangt für den Kaffee, den man beim Besuch im Behindertenheim im Restaurant getrunken hat? Braucht es wirklich Auszüge aus dem Straf- und Betreibungsregister, nachdem man schon 20 Jahre lang Beistand gewesen ist und es nie Probleme gegeben hat?

Fragen, die auch Walter Grob regelmässig beschäftigen. Grob leitet die Kesb Linth in Rapperswil und weiss, wie wichtig die privaten Mandatsträger sind: «Ohne sie hätten wir im Erwachsenenschutz ein Problem.» Die Balance zu finden zwischen Kontrolle und Laisser-faire sei nicht immer einfach. «Es braucht Fingerspitzengefühl.»

Grob findet, ein Beistand sollte grundsätzlich in der Lage sein, eine Buchhaltung zu führen oder eine Steuererklärung auszufüllen. Aber es sei nicht zwingend: «Wir können im Einzelfall Ausnahmen machen und Angehörige, die als Beistände walten, von gewissen Pflichten befreien, solange keine komplizierten Vermögensverhältnisse vorliegen.» Da sei man relativ grosszügig.

Zudem könne man einzelne Aufgaben einem Berufsbeistand übergeben. «Die privaten Beistände sind vor allem wichtig, weil sie viel mehr Zeit für persönlichen Kontakt mit Betroffenen haben als wir oder die Berufsbeistände.»


Madeline Scherrer hat sich immer viel Zeit genommen für andere. Die 76-jährige gelernte Kindergärtnerin und frühere Behindertenbetreuerin aus Schmerikon SG zog mit ihrem Mann Willy zwei eigene Kinder gross, nahm aber auch mehrere Pflegekinder auf und bot immer wieder Reisenden aus verschiedenen Kontinenten eine vorübergehende Bleibe. Seit mehr als 40 Jahren kümmert sie sich ausserdem um einen inzwischen 53-jährigen, geistig schwer behinderten Mann, der in einem Heim in der Nähe lebt. «Seine Mutter war überfordert, er war ein wilder Junge, der sich kaum ausdrücken konnte. Sie suchte per Inserat eine Betreuungsperson zur Entlastung», erzählt Madeline Scherrer. Weil sie bereits mit Behinderten gearbeitet hatte, meldete sie sich.

Längst ist ihr der Schützling ans Herz gewachsen wie ein eigener Sohn. Lebhaft erzählt die gebürtige Genferin, wie er sie immer wieder aufs Neue überrascht. «Kürzlich besuchte ich mit ihm einmal nicht das gleiche Café wie üblich. Prompt wollte er danach ins ‹richtige› Café, um sich nochmals mit Kaffee und Nussgipfel bedienen zu lassen», sagt sie und lacht.

Auf Wunsch der Mutter des Betroffenen übernahm sie vor rund 28 Jahren offiziell die Beistandschaft und besucht ihren «Ziehsohn» regelmässig im Heim. Das neue Erwachsenenschutzgesetz hat manches verändert. «Früher konnte ich kurz im Gemeindehaus vorbeischauen, wenn ich eine Frage hatte. Heute fühlt es sich an, als müsste ich nach New York», sagt sie. Den Papierkram erledigt aber sowieso ihr Ehemann. Und dieser findet die Gesetzesänderung eigentlich ganz gut: «Ich wurde von der Kesb zum Beispiel darauf hingewiesen, dass ich die Franchise für die Krankenkasse bei den Ergänzungsleistungen angeben kann. Das wusste ich nicht», sagt er.

Quelle: Manuel Rickenbacher

 

Das sind die positiven Auswirkungen der manchmal leidigen Pflichten. Allerdings kommen diese längst nicht überall zum Tragen. «Es gibt grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Kesb im Umgang mit den privaten Mandatsträgern», weiss die Expertin Karin Anderer. Manche hätten eine Fachstelle für sie eingerichtet, böten Schulungen an und pflegten den Kontakt, andere seien organisatorisch noch im Aufbau, und dann sei für die Privatbeistände nicht ohne weiteres klar, wer für sie zuständig ist.

Wenn dann auch noch Anforderungen gestellt würden, die ein Laie kaum erfüllen könne, bringe dies das Fass schnell zum Überlaufen. «Die Kesb täten gut daran, ihre PriMas zu unterstützen und zu begleiten. Sonst ist die Gefahr gross, dass sie ihrem Unmut in der Öffentlichkeit Luft machen», sagt die Juristin.