Minelli geht zum Angriff über. Der 75-Jährige, eben noch die Ruhe selbst, goutiert die kritischen Zwischenfragen des Radiomoderators nicht mehr. Urplötzlich legt sich in seine helle, vermeintlich altersmilde Stimme ein Befehlston, schneidend, herrisch, als er droht: «Nicht unterbrechen! Sonst höre ich sofort auf! Das ist ganz klar! Ich höre sofort auf!»

Wenn Ludwig Amadeus Minelli spricht, haben die anderen zu schweigen - so scheint das Credo des Dignitas-Gründers zu lauten.

In Rage gebracht hatten Minelli im Interview die Fragen von Medienunternehmer Roger Schawinski. Der wollte in der Live-Sendung auf Radio 1 Näheres wissen zu der neuerdings bei Dignitas angewandten Praxis der Selbstttötung mit Hilfe des Edelgases Helium. Ein völlig schmerzloser Tod, sagte Minelli in der Sendung, vergleichbar mit einer Art «Höhenrausch».

Partnerinhalte
 
 
 
 

Die Odyssee der Sterbewilligen
Ende März, zum Zeitpunkt jenes Interviews, hat Minellis hochumstrittene Dignitas Monate einer regelrechten Odyssee hinter sich. Lange starben die Lebensmüden, die zum grössten Teil aus dem Ausland stammten, in einer Wohnung an der Gertrudstrasse in Zürich. Weil die Wohnung gekündigt wurde, zog Dignitas weiter in eine Wohnung nach Stäfa, dann in ein Haus nach Maur ZH, weiter in ein Hotel nach Winterthur und zuletzt in die Industriezone von Schwerzenbach ZH. Nach Bekanntwerden des Helium-Todes hat Dignitas auch hier die Kündigung erhalten. Minelli aber will nicht gehen: Er fordert eine Mieterstreckung von 24 Monaten. «Minelli kann sich unheimlich in etwas verbeissen. Er hat kein Gespür für Grenzen. Darum ist er der Falsche für dieses Geschäft», sagt ein langjähriger Weggefährte, der mit Namen nicht zitiert werden will.

«Es ist meine Pflicht» - diesen Titel trug in der «Weltwoche» ein mehrseitiger Artikel, verfasst von Minelli selber, in dem er darlegte, warum er so handelt, wie er es tut. Suizid sei ein Menschenrecht, führte er aus. Seit 21 Jahren sei er Menschenrechtsanwalt. Zu seiner Pflicht gehöre es, jener Minderheit dieses Recht zu ermöglichen, die den Wunsch verspürten, aus dem Leben zu scheiden.

Minelli, der streitbare Verfechter des Rechts auf Suizid, wählt sich die Medien aus, denen er Red und Antwort stehen will. Der Beobachter gehört nicht dazu. Die Antwort auf die Bitte um ein Hintergrundgespräch kommt postwendend: «Für derartige Anfragen stehe ich grundsätzlich nicht zur Verfügung. Mit freundlichen Grüssen, Ludwig A. Minelli.»

Wer ist der Mann, der die Porträt-Autoren zu stets raunend-düsteren Überschriften inspiriert: «Das Reisebüro für Lebensmüde» («Frankfurter Allgemeine Zeitung»), «Der Advokat des Todes» («Die Zeit»), «An der Schwelle zum Tod» («Süddeutsche Zeitung»)?

Zwei Worte sind es, die immer wieder fallen, wenn man nachfragt bei Leuten, die mit ihm zu tun hatten: Gerechtigkeit und Fanatismus. «Er ist ein Gerechtigkeitsfanatiker und ein unbeugsamer Mensch», sagt Schawinski, der sich von Minelli vor Jahren anwaltschaftlich vertreten liess. Martin Edlin, ein ehemaliger Berufskollege, sagt: «Die Selbstverantwortung ist sehr zentral für ihn. Er hat einen richtiggehenden Gerechtigkeitsfimmel.» «Ein Gerechtigkeitsfan», sagt Publizist Karl Lüönd, «er hat etwas Verbissenes, eine jakobinische Verfolgermentalität.»

Sein Übername: «Kriminelli»
Minelli startet seine Karriere als Journalist. Er arbeitet in den sechziger und frühen siebziger Jahren bei der «Tat», beim «Blick», wo er zur Gründungscrew gehört, und rund zehn Jahre als erster Schweizer Korrespondent des deutschen Nachrichtenmagazins «Der Spiegel». Walter Biel, damals Wirtschaftsredaktor bei der «Tat» und späterer Chefredaktor, erinnert sich an einen «munteren, draufgängerischen Typ». Er fällt auf durch unkonventionelle Recherchemethoden. «Als ‹Blick›-Redaktor war Minelli bekannt dafür, dass er selbst Bundesräte an Sonntagen zu Hause anrief. Für die damaligen Verhältnisse in der Schweizer Presse ein unerhörter Übergriff», sagt Lüönd, später selber «Blick»-Journalist. Seine Vorliebe für das Juristische und die Gerichtsberichterstattung bringt Minelli einen Übernamen ein: «Kriminelli».

Bei seinen journalistischen Attacken steht ihm ein wertvolles Instrument zu Diensten: das Minelli-Archiv. In akribischer Kleinarbeit sichtete, sammelte und ordnete Minelli Zeitungsartikel, die er in ungezählten Ringordnern ablegte. Niemand, so sagen damalige Kollegen, war so gut dokumentiert wie er. Die Archivarbeit leistete er nebenher. Selbst Tageszeitungen bezahlten für den Zugriff auf die Dokumentationen. Ungeheuer fleissig sei Minelli gewesen. «Er muss wohl Tag und Nacht gearbeitet haben. Wir alle fragten uns, wie er sein gewaltiges Arbeitspensum überhaupt bewältigt kriegt», meint Jürg Bürgi, Schweizer «Spiegel»-Korrespondent von 1977 bis 1999.

«Aufgeblasene Provinznullen»
1973 trennt sich der «Spiegel» von Minelli. Den Verantwortlichen im deutschen Verlagshaus geht dessen politisches Engagement zugunsten der Initiative für die Trennung von Kirche und Staat zu weit. In den Folgejahren produziert er in seinem selbstgebastelten Radiostudio in der Garage seines Hauses auf der Forch - die Wände hat er zwecks Schallisolierung mit Eierkartons beklebt - Korrespondentenberichte für verschiedene deutsche Radiostationen.

Die ritzen gern mal die Grenzen des guten Geschmacks. Für Aufregung sorgt 1993 seine Berichterstattung im deutschen Südwestfunk in Zusammenhang mit der Nichtwahl der offiziellen SP-Bundesratskandidatin, Christiane Brunner. Die Parlamentarier tituliert er kurzerhand als «aufgeblasene Provinznullen» und «altbackene Penisträger», die während der Session in Bern «den Frauen am liebsten unter die Röcke greifen» und «vom Führen eines Jauchewagens mehr verstehen als von Staatsführung und Demokratie».

Auf diese Beleidigung ist Ludwig A. Minelli noch heute stolz: «Ein Supersatz», schmeichelte er sich in einem Interview des deutschen «Tagesspiegels» Ende März. Und legte gleich nach, wiederum in ähnlicher Währung: «Dignitas ist ja auch nicht in der Lage, den Herren vom Gemeinderat schöne Naturaldienste anzubieten.» Hintergrund der Aussage: Dignitas habe nur mit Mühe den Segen der Gemeinde Schwerzenbach für die Einrichtung einer Sterbewohnung auf ihrem Gebiet bekommen. Das in der Nachbarschaft der Wohnung betriebene Bordell jedoch habe in kürzester Zeit alle Bewilligungen erhalten.

Süffige Polemik schätzt Minelli - vor allem wenn sie andere trifft. Bei der eigenen Person hört der Spass auf. Das erfuhr, neben anderen Medienschaffenden, auch der damalige «Weltwoche»-Journalist Stefan Barmettler. Er publizierte 1993 ein Porträt mit dem Titel «Wenn der alte Wilderer zum Jagdaufseher wird». Sehr zum Unwillen Minellis. Insbesondere die Bezeichnung «Wilderer» erachtete er als rechtswidrige, besonders schwere Persönlichkeitsverletzung und klagte bis vor Bundesgericht.

Das hätte er besser gelassen. Denn das Bundesgericht bestätigte die Ausführungen des Zürcher Obergerichts, wonach «es zum Wesen des Klägers gehöre, in der von ihm betriebenen politischen Auseinandersetzung mitunter anerkannte gesellschaftliche Normen mit einer gewissen Nonchalance zu übertreten und (...) den Kontrahenten der Lächerlichkeit preiszugeben». Minelli sei «eine Persönlichkeit, die, wenn es ihr gut scheine, durchaus willens sei, den politischen Diskurs von der Argumentationsebene auf Beschimpfungen zu reduzieren und sich zugleich über ethische Grundwerte hinwegzusetzen».

Das Urteil wird 2001 publiziert. Da ist Minelli schon längst selber Jurist. Im Alter von 44 Jahren hatte er sich angeschickt, sein bisheriges Steckenpferd zum Beruf zu machen. Er schreibt sich an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Zürich ein, im Februar 1981 schliesst er, bald fünfzigjährig, sein Studium ab.

Als Rechtsanwalt erzielt Minelli beachtliche Erfolge. Der Gründer der Schweizerischen Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention scheut sich nicht, Bundesgerichtsurteile nach Strassburg weiterzuziehen, an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Seine Siege dort in den Fällen Minelli I und II machen die Schweizer Gefängnisse menschenrechtskonform und gehören noch heute zum Pflichtstoff für Jusstudierende.

Zum beliebtesten Ziel seiner juristischen Attacken aber wird seine frühere Branche, die Medien. Als die inzwischen eingestellte Wirtschaftszeitung «Cash» in den neunziger Jahren eine kritische Artikelserie über Denner publiziert, verhängt der Detailhändler einen Inserateboykott gegen sämtliche Ringier-Publikationen und klagt auf eine Gegendarstellung. Unter anderem wird ein Plakataushang verlangt mit dem Titel «Denner, alles o.k.». Hinter der Aktion steckt Ludwig A. Minelli, der inzwischen zum Berater des verstorbenen Denner-Chefs Karl Schweri avanciert ist.

Was er später bei Dignitas zum Prinzip erheben wird - die Intransparenz -, zeichnet sich bereits in der von ihm geprägten damaligen Denner-Unternehmenskommunikation ab. Über Denner, so Minelli, dürfe öffentlich gar nicht berichtet werden, weil Denner kein börsenkotiertes Unternehmen sei, so die merkwürdig anmutende Begründung des Juristen.

Die Kritik reisst nicht ab
«Seine grösste Befriedigung ist es, wenn er gegen Autoritäten losziehen kann. Er besitzt eine unheimliche Energie und setzt sich zu hundert Prozent für eine Sache ein, die er als richtig empfindet. Aber jemand muss ihm Grenzen setzen, sonst läuft es aus dem Ruder», sagt ein Weggefährte.

«Dignitas: Sterbehilfe auf dem Parkplatz», «Minelli sorgt für Empörung», «Sterbefabrik in Schwerzenbach wird geschlossen»: Die Dauerkritik, die Negativschlagzeilen reissen nicht ab. Vieles deutet darauf hin, dass bei Dignitas tatsächlich etwas aus dem Ruder läuft.

Niemand hat so viel für das Recht auf Suizid getan wie Minelli. Und niemand - denkt man an die Negativschlagzeilen - hat diesem Recht vielleicht so sehr geschadet wie sein fanatischster Verfechter: Ludwig Amadeus Minelli.