Die Szenen, die am 2. Oktober zum ersten Spielabbruch wegen Gewalt in der Geschichte des Schweizer Profifussballs führten, schockierten die Öffentlichkeit: Rund 20 Fans des FC Zürich waren mitten im Spiel wie auf Kommando aus ihrem Sektor gestürmt, in Richtung der GC-Kurve. Zwei von ihnen schleuderten je eine Leuchtfackel in die gegnerische Menge. Andere prügelten sich auf der Gegengeraden mit Zuschauern, die eingreifen wollten. Was Aussenstehende als ansatzlose, verstörende Gewalt wahrnahmen, folgte für die Beteiligten einer eigenen Logik. Und die hat ihre Geschichte.

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Seit 2006 bekämpfen sich einige der hartgesottenen GC- und FCZ-Fans in Zürich auch abseits des Fussballs. GCler beklagten sich über Übergriffe seitens der FCZler, über Hausbesuche, Einbrüche und Telefonterror. Beim Streit, der Züge einer Stammesfehde aufweist, geht es um Demütigung und Einschüchterung mit dem Ziel, die Vormachtstellung in Zürich zu besetzen. Mit Aufklebern, Tags und Graffitis werden Territorien markiert. Als wertvollste Jagdtrophäen gelten Fahnen gegnerischer Fangruppen. Solche erbeuteten GC-Fans 2007 bei einem Einbruch in ein FCZ-Fanlokal. Sie suchten dort eine eigene Fahne, die ihnen zuvor bei einer Schlägerei am Bahnhof Brugg entwendet worden war. Bis heute sind sich die Fanlager darüber uneinig, ob diese Schlägerei unter fairen Kräfteverhältnissen geführt wurde. Den Gegner als feige, ruchlos oder verweichlicht darzustellen ist Teil des Rituals.

Die Täter bestrafen – und nicht die Fans

Um ihrerseits ihre gestohlenen Fahnen zurückzuholen, entführten FCZ-Fans wenig später einen GC-Anhänger aus seiner Wohnung. Damit war der Revierkampf vollends aus dem Ruder gelaufen. Bald setzte die Polizei zahlreiche FCZ-Fans in Untersuchungshaft. Es kehrte erst Ruhe ein, als sich ein führender Kopf der FCZ-Fankurve mit dem Entführungsopfer traf. Dieses erinnert sich: «Es war ein respektvolles Gespräch.» Nachdem sich auch einer der Täter persönlich bei ihm entschuldigt hatte, verzichtete der GC-Fan sogar auf eine Anzeige. «Ich wollte niemandem die Zukunft verbauen», sagt er – auch keinem FCZ-Fan. Zehn Tage vor dem 226. Zürcher Derby gab die Staatsanwaltschaft bekannt, dass sie das Verfahren eingestellt hat.

Vielleicht sahen die GC-Fans deshalb den Zeitpunkt gekommen, die ultimative Provokation zu wagen. Sicher ist nur, dass bereits in den Monaten vor dem Skandal-Derby das archaische Treiben wieder aufgeflackert war. Und dass sich die GC-Anhänger nun offenbar Manns genug fühlten, während des Spiels die im Jahr 2007 erbeuteten Stücke zu präsentieren. Dazu verhöhnten sie die betroffene FCZ-Fangruppierung just zu deren 15-jährigem Jubiläum mit hämischen Geburtstagsgrüssen. Die FCZ-Fans explodierten vor Wut. Und reagierten prompt.

Dass die Ausschreitungen die Volksseele zum Kochen gebracht haben, ist verständlich. Ebenso, dass die Politiker vor den Wahlen Kapital daraus schlagen wollen. Hooligans und gewalttätige Ultras sind ein dankbares Thema. Deren Taten verurteilen alle, nicht nur Leute, die mit Fussball nichts anfangen können, sondern auch die Mehrheit der Fans. Und so spielen sich täglich neue Experten mit immer drastischeren Vorschlägen in den Vordergrund. Bei genauerer Betrachtung sind jedoch die meisten dieser Vorschläge Scheinlösungen.

Da ist zum Beispiel der Ruf nach einem Alkoholverbot in den Stadien. Wer dies fordert, verkennt die Realität; in den Kurven ist der kollektive Zwang zum Support so gross, dass den Ultras vor lauter Singen und Klatschen zum Biertrinken kaum Zeit bleibt. Wer sich zudröhnen will, tut dies vor dem Stadion, wo das Bier ohnehin billiger ist. Und er tut dies umso massloser, wenn er weiss, dass es später kein «richtiges» Bier mehr geben wird.

In die gleiche Richtung geht die Forderung nach Sitzplatzstadien. Der Letzigrund ist bereits ein solches, zu den Ausschreitungen ist es dennoch gekommen. Klar, man könnte die Fans zum Sitzen zwingen, doch gelänge dies wohl nur mit Polizeigewalt. Dasselbe Problem stellte sich bei Vermummungsverbot und Nulltoleranz gegenüber Fackelzündern. Zur Durchsetzung – und nur dann machen Verbote Sinn – wäre das gezielte Herauspflücken von Tätern aus der Kurve nötig. Der renommierte Wissenschaftler Gunter A. Pilz ist nicht der einzige Experte für Gewalt im Sport, der davor warnt: «Selbst besonnene Fans werden sich in diesem Moment mit den wenigen Chaoten verbünden», sagte er gegenüber «20 Minuten online». Wüste Kämpfe wären die Folge. Um dann die eigentlichen Aggressoren aus der Kurve zu holen,wäre ein immenses Polizeiaufgebot nötig. Private Sicherheitsdienste kämen dafür kaum in Frage. Gegen diese fechten Fangruppen haarsträubende Privatfehden aus, wie das kürzlich veröffentlichte Überwachungsvideo aus dem Letzigrund deutlich machte.

Ob aber überhaupt Polizisten ins Stadion sollen, ist politisch umstritten. Zwar wird allenthalben ein professionellerer, sprich effizienterer Sicherheitsapparat gefordert. Durchaus zu Recht, wenn man sich fragen muss: Wie ist es möglich, dass an einem Hochrisikospiel wie dem Zürcher Derby Fans mit Fackeln in der Tasche unbehelligt 100 Meter zum gegnerischen Fanblock marschieren können? Doch erstens sind die Polizeikorps bereits heute notorisch unterbesetzt. Zweitens will oder kann niemand für die zusätzlichen Kosten in Millionenhöhe aufkommen; weder Staat, noch Verband, noch die Vereine.

Soll man also den Riegel an den Stadioneingängen schieben, mit der Einführung von personalisierten Fan-Pässen etwa oder mit verschärften Kontrollen «bis in den Intimbereich», wie der Zuger Sicherheitsdirektor forderte? Nun, für Ersteres fehlen bis heute praktikable Umsetzungsvorschläge oder das nötige Geld. Zweiteres ist schlicht illusorisch. In St. Gallen hat man mal Container aufgestellt und darin mehr oder weniger willkürlich Einzelpersonen bis auf die Unterhosen gefilzt. Das Ergebnis, spitz formuliert: Vorne gingen gutgelaunte Fans rein, hinten kamen aggressive, sich schikaniert fühlende Fans wieder raus – und Pyros wurden danach trotzdem gezündet.

Letztlich ist es – auch wenn man dies vielleicht nicht gerne hört – so, wie FCB-Vizepräsident Bernhard Heusler in der «Basler Zeitung» erklärte: «Wenn man jedes Risiko ausschliessen will, dann bleibt uns doch nur noch, die Spiele unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchzuführen.» Wer die absolute Gewaltfreiheit anstrebe, schaffe das Profifussballspiel ab, so wie es von zwei Millionen Zuschauern im Jahr in den Schweizer Stadien erlebt wird.

Zweifellos gibt es Massnahmen sicherheitspolitischer und stadionbaulicher Natur, die das Risiko für Ausschreitungen reduzieren. Und die gleichzeitig dafür sorgen, dass Fans, die jeglichen Respekt vermissen lassen und sogar Schwerverletzte in Kauf nehmen, konsequent verfolgt und ebenso hart bestraft werden – wie das übrigens bereits seit Jahren passiert.

Ein wichtiges Glied ging in der bisherigen Debatte aber stets vergessen: die Fans. Womöglich sind es nämlich gar nicht so sehr Politiker und Beamte, die klären müssen, wie sie Gewalttäter effektiv ausgrenzen, «sondern die Ultrabewegung selbst», wie der Polizeidirektor des deutschen Bundeslands Nordrhein-Westfalen kürzlich in der «Welt am Sonntag» sagte. Doch hierzulande gewinnt man mit derlei Voten keine Stimmen. Besser, man betont, dass die Fans – und mit ihnen die Vereine – versagt hätten und nun «die Politik das Zepter in die Hand nimmt». Die Gefahr besteht jedoch, dass durch Gesprächsverweigerung, gepaart mit der Umsetzung massiver, aber letztlich wirkungsloser Überwachungs- und Repressionsmassnahmen, die besonnenen Fans in den Kurven geschwächt und die Radikalen zusätzlich gestärkt werden.

Archaischer Kult um Fahnen, Macht und Ehre

So ist es – und das ist das eigentliche Drama – das zweifelhafte Verdienst aller Beteiligten an der jüngsten Eskalation, dass sie in den Augen der Öffentlichkeit nun sinnbildlich steht für eine unkontrollierbare und gewalttätige Fankultur. Das letzte bisschen Kredit, das Fussballfans in der Schweiz – wenn überhaupt – noch genossen, wurde auf medienwirksame Art verspielt; ein hoher Preis für einen chauvinistischen, letztlich kindischen Kult um Fahnen, Macht und Ehre.

Das dadurch provozierte Getöse um Nulltoleranz, Pranger und Fussfesseln bläst weg, was die Fankurven in den letzten zehn Jahren auch an Konstruktivem, Klugem und Kreativem zustande gebracht haben. Denn die Selbstregulierung unter Fans gibt es. Es hat sich bloss nie jemand dafür interessiert. Als 1500 FCZ-Fans im Europacup in einem eigens gecharterten Zug nach Empoli fuhren, hielt die mitreisende «NZZ» anerkennend fest: «Dass sich alles im korrekten Rahmen bewegte, war auch auf die Selbstkontrolle der Fussballreisenden zurückzuführen. Per Flugblatt waren nämlich die wichtigsten Benimmregeln in Erinnerung gerufen worden.» Das weiss kaum jemand, denn andere Zeitungen hatten Spektakuläreres zu bieten: «Zwei FCZ-Fans festgenommen!» – Sie hatten sich auf Empolis Piazza laute Mussolini-Witze erlaubt.

Fanszenen sind heute im Vergleich zu den neunziger Jahren gut organisiert. Seit die Ultra-Kultur aus Italien importiert wurde, sind die Kurven nicht nur gut gefüllt, sondern treten auch geschlossen auf. Und dies keineswegs nur in dumpfer Aggression, sondern auch mit Witz und (Selbst-)Ironie. Als sich die St. Galler Polizei etwas gar laut für ihren Kampf gegen vermummte Fans rühmte, reisten 1000 Zürcher blau-weiss geschminkt zum Auswärtsspiel an.

Aus der Schweizer Super League sind stimmungsvolle Fankurven heute nicht mehr wegzudenken. Seit Jahren steigende Zuschauerzahlen widerlegen das Argument, immer mehr Leute blieben aus Angst vor Ausschreitungen den Stadien fern. Ebenso wenig erhärten lässt sich die Behauptung, die Gewalt rund um Sportanlässe nehme stetig zu. Die Kantone kennen keine Meldepflicht für derartige Vorfälle, deshalb existieren auch keine entsprechenden Zahlen, wie das Bundesamt für Polizei auf Anfrage bestätigt. Darin liegt ein Kern des Problems: Der Dialog zwischen Vereinen und ihren Fans wird vielerorts intensiv und mit Erfolg geführt. Weisen Klubvertreter wie Basels Vizepräsident Bernhard Heusler aber darauf hin, wird ihnen von Medien und Politik angesichts spektakulärer Gewaltvorfälle Verharmlosung vorgeworfen. Als seien Gesprächsbereitschaft und Beharrlichkeit die falschen Rezepte.