Barbara Schneider erhält morgens um sieben schon mal wütende Telefonanrufe auf ihren Privatanschluss. Sie solle endlich etwas tun, die Stadt von Schmutz und Unrat befreien. Manchmal werden ihr Fotografien zugeschickt vom müllübersäten Rheinbord. Beweisfotos. Jedes Bild eine Anklage. Das ist nicht immer leicht auszuhalten. Schneider (SP) ist Basler Baudirektorin. Gehts um den Müll, hört der Spass für viele Bürger auf.

Und der Staat reagiert. Mit missionarischem Eifer werden Polizeiverordnungen umgeschrieben, erlassen Gemeinden und Städte Verbote und führen Sofortbussen für Abfallsünder ein. In Dietikon ZH patrouillieren bereits private Sicherheitsdienste auf der Jagd nach Rauchern, die ihren Zigarettenstummel auf den Boden schnippen. In Basel werden Freiluft-Pinkler gebüsst. Die Basler Ständerätin Anita Fetz (SP) fordert vom Bundesrat, «schweizweit das Liegenlassen von Abfällen unter Strafe» zu stellen. Wer an eine Hauswand schifft, die Reste des Lunchpakets am Boden liegen lässt oder den Hundekot nicht ordnungsgemäss entsorgt, muss an immer mehr Orten mit einer sofortigen Busse rechnen. Winterthur, die zweitgrösste Zürcher Stadt, erwägt sogar ein Spuckverbot. Ein Sauberkeitswahn erfasst das Land.

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«Wir sind eine Gesellschaft, die unglaublich viel Abfall produziert», sagt der Psychoanalytiker Mario Erdheim (siehe unter Artikel zum Thema das Interview «Toleranz wird zum Schimpfwort»). «Darüber regt sich niemand auf.» Tatsächlich: Die Menge des jährlich in der Schweiz entsorgten Abfalls würde eine Lastwagenkolonne von rund 800 Kilometer Länge füllen. Heute sind es über fünf Millionen Tonnen, 1985 waren es erst 3,5 Millionen. Bis vor drei Jahren wurden die Abfalleimer in der Bundesstadt nur zweimal pro Tag geleert, seither sechsmal. Statt über weniger Abfall nachzudenken, wird bestraft, wer Müll liegen lässt. «Saubere Strassen, saubere Städte - das beruhigt», sagt Erdheim, und es lenke vom eigentlichen Problem ab. Abertausende verköstigen sich über Mittag «fliegend» an der warmen Theke - Plastikbehälter für die Lasagne, Plastikbesteck und PET-Flasche inbegriffen.

Ist aber das achtlose Wegschmeissen von Verpackungen, Kaugummis und Zigaretten tatsächlich eine «Landesplage», wie eine Zeitung titelte? «Das Wegwerfen von Abfall ist kein gravierendes Problem», sagt Hans-Peter Berger, Chef der Stadtreinigung Zürich. Viel mehr Kopfzerbrechen bereiten ihm Grossanlässe wie die kommende Euro 08 oder die Street-Parade. Auch die Berner Stadtreinigung macht nicht auf Panik, es sei eine Frage der Ästhetik, nicht der Menge. Nur wenige Leute, so Berger, «vielleicht zwei Prozent», liessen ihren Müll einfach liegen: «Wollen Sie für diese wenigen Leute ein Heer von Polizisten abkommandieren?», fragt er.

Der Zeigefinger des Güsel-Rangers
Um das zu vermeiden, heuerte die Stadt Dietikon ZH einen privaten Sicherheitsdienst an. Im Zürcher Vorort werden seit Mitte April Abfalldelinquenten vor Ort mit 80 Franken gebüsst. «Wenn die Erwischten zickig tun, holen die privaten Sicherheitspatrouillen die Polizei», sagt der Sicherheitschef Heinz Illi (EVP). Und wer nicht in die Fänge des privaten Patrouillendienstes gerät, muss immer noch damit rechnen, einem sogenannten Güsel-Ranger vor den erhobenen Zeigefinger zu laufen. Das ist ein für die Kampagne «Sauberes Dietikon - wir packens an» im Ort herumweibelnder ehemaliger Greenpeace-Mann, der die Aufgabe hat, Abfallsünder zurechtzuweisen. Der wundert sich dann in seinem Internet-Tagebuch über «einen Jugendlichen», der ihn «bewusst provozierte»: «Er liess seinen Abfall vor meinen Augen auf den Boden fallen.» Was die Befürchtung der Berner FDP-Nationalrätin Christa Markwalder bestätigt: Ein Verbot zu übertreten sei gerade für Jugendliche «attraktiv». Deshalb hält sie solche Verbote sogar für kontraproduktiv. Doch «so wie es jetzt läuft, verhängt der Staat Verbot um Verbot», kritisiert sie.

Und wo ein Problem ist, sind die Experten nicht weit - und mit ihnen das passende Fremdwort. «Es wird hemmungslos gelittert, vor allem nachts!», entfährt es der Luzerner Sicherheitsdirektorin Ursula Stämmer-Horst (SP). Gelittert? Das Wort hätte vor zehn Jahren hierzulande kaum einer verstanden, heute ist es nach einer Blitzkarriere bereits eingedeutscht. Es stammt vom englischen Verb «litter» und bedeutet «Abfall wegwerfen». Im Oktober 2007 fand in Luzern ein Kongress statt mit dem Titel «Sicherheit, Sauberkeit und Sozialraum-Qualität». Zwei Tage lang diskutierten und vernetzten sich Städtevertreter, Entsorgungsbeamte, Polizeidirektoren, Vertreter privater Sicherheitsfirmen und der Putzmaschinenindustrie und natürlich Littering-Experten. Erklärtes Ziel war die «Kultivierung eines gemeinsamen Problemverständnisses». Statt Strategien der Abfallvermeidung zu erörtern, bringt sich offenbar eine Beraterindustrie in Stellung, die vor allem die Symptome bekämpft. Wer erinnert sich nicht an die radikale Achtziger-Jahre-Kampagne «Jute statt Plastik»? Solcher Fundamentalismus erscheint heute undenkbar. Lieber unterstützt der Bund eine «Littering-Studie» der Uni Basel mit 20'000 Franken. Und das Bundesamt für Umwelt widmet sich der «Problemsensibilisierung». Fragt sich nur, für welches Problem sensibilisiert werden soll.

Dass immer mehr Abfall anfällt, wird kaum jemand bestreiten. Umstritten sind die Lösungsansätze. Wer Bussen verteilt, unterstellt, dass eine Art Sittenzerfall eingesetzt hat und das Problem mit ein wenig Anstand und Erziehung gelöst werden kann. Johanna Rolshoven, Kulturwissenschaftlerin an der ETH Zürich, ortet als Motiv der aktuellen Sauberkeitshysterie etwas handfest Ökonomisches: «Die Schweiz hat im internationalen Standortwettbewerb ihren guten Ruf als sauberes Land zu verteidigen.» Das bestätigt die Luzerner Regierung indirekt, wenn sie ihre Forderung nach Sofortbussen folgendermassen begründet: «Sicherheit und Sauberkeit sind wichtige Faktoren im Standortwettbewerb.»

Bussen sind Symptombekämpfung
Das alles hat etwas Überdrehtes. Eine Gesellschaft produziert Müll am laufenden Band und stellt ihre Mitglieder an den Pranger, wenn sie Papierfötzeli hinterlassen. Psychoanalytiker Mario Erdheim gebraucht folgendes Bild: «Die ‹Titanic› sinkt, aber man will unbedingt noch den Wasserhahn in der Kajüte reparieren, weil er tropft.» Dabei reduzieren Bussen die Abfallmenge nicht. Sie sind Symptombekämpfung. In Basel wurden 2007 gerade mal fünf Hündeler erwischt, gestellt und gebüsst. Guy Morin, Basler Justizdirektor (Grüne), möchte die Verordnung, die Sofortbussen erlaubt, am liebsten wieder abschaffen: «Wenn eine Strafnorm nicht vollzogen wird, wird der Gesetzgeber unglaubwürdig. Das wissen alle Eltern, die Übertretungen von Verboten bei ihren Kindern nicht ahnden. Die verlieren schnell ihre Autorität.»

Sauberkeit und Sicherheit - diese Wörter werden mittlerweile in einem Atemzug genannt wie Emmentaler und Käse. Das illustriert, worum es eben auch geht. Im Windschatten des Kreuzzugs für Reinlichkeit werden weitere, bürgerfeindliche Gesetze scharf gemacht. Man will nicht nur saubere Plätze, sondern auch ruhige. Ohne kiffende, grölende oder saufende Kids. Immer mehr Kantone schaffen rechtliche Grundlagen, um Menschen von gewissen Orten wegzuweisen. Im Aargau kann die Polizei seit Januar 2007 Jugendlichen den Zutritt zu Restaurants oder Plätzen selbst dann verbieten, wenn diese noch gar kein Delikt begangen haben. Die Basler Regierung hat eben nachgezogen und grünes Licht für einen sogenannten Wegweisungsartikel gegeben: «Die Kantonspolizei benötigt griffige Massnahmen, wenn es gilt, grössere Auseinandersetzungen bereits im Vorfeld zu unterbinden.» Ein «Stinkefinger» oder «verbale Beleidigungen» können bereits für einen Platzverweis reichen. St. Gallen und Luzern liebäugeln ebenfalls mit solchen rigiden Platzverboten. Alles im Namen von Sauberkeit und Sicherheit auf öffentlichen Plätzen. «Anpöbeln, belästigen, Lärm machen, mit Hunden herumlungern. Wir wollen nicht zulassen, dass die öffentlichen Plätze monopolisiert werden», sagt Hans-Rudolf Arta vom St. Galler Justizdepartement.

Jugend im Visier der Tugendwächter
Schnell wird klar, wen Platzverbote treffen sollen: die Jugend. Vor allem die trinkende. Chur ist die erste Stadt, in der künftig nach Mitternacht auf öffentlichem Grund kein Alkohol getrunken werden darf. Zugleich hat man dort das Sanktionsmittel der «Wegweisungen» eingeführt.

Dagegen gibt sich das «Nationale Programm Alkohol 2008-2012» des Bundesamts für Gesundheit (BAG) erstaunlich zurückhaltend, wenn es um die 300'000 erwachsenen Alkoholiker geht. Bechern in den eigenen vier Wänden scheint okay zu sein. Dafür lamentiert das Amt umso lauter über das «Rauschtrinken» der Jugendlichen. Ein Ziel, so die Moralwächter vom BAG, sei eben auch die «Erhöhung des Sicherheitsgefühls im öffentlichen Raum».

Sogar explizit gegen die Kids geht es in 24 Aargauer Gemeinden im «Zurzibiet». Seit 1. April 2008 dürfen sich dort unter 16-Jährige nach 23 Uhr nicht mehr ohne Erwachsene auf öffentlichen Plätzen aufhalten. «Rund 15 Prozent der Jugendlichen hängen einfach herum, langweilen sich - und wir haben dann Vandalismus- und Littering-Probleme», verteidigt Peter Bühlmann, Präsident des Führungsausschusses der Regionalpolizei, die neue Massnahme. «In der Regel rufen wir die Eltern an, wenn wir die Jugendlichen draussen erwischen, und bitten sie, die Kinder abzuholen.» ETH-Stadtforscherin Rolshoven hält Ortsverbote für einen «hilflosen Versuch», die Jugend zu erziehen. «Was früher als Bubenstreich durchgegangen wäre, wird heute stark problematisiert. Bei der Ausgrenzung sogenannt randständiger Jugendlicher spielt wohl die Angst mit, dass den eigenen Kindern das auch passieren könnte.» Der Freiburger Staatsrechtsprofessor Thomas Fleiner kritisiert diese Ausgehsperre als «eindeutig diskriminierend».

Es gibt noch einen Grund, sich über die lustfeindlichen Hardliner zu wundern: Die Monopolisierung durch kommerzielle Grossveranstaltungen im öffentlichen Raum wie Street-Parade, Euro 08 oder andere Grossevents ist nämlich völlig akzeptiert. Die pöbelnden Halbstarken, die ihre Pubertät ausleben, könnten ein Leben lang rumjohlen - sie kämen nie an das heran, was bei einer einzigen solchen Veranstaltung an Lärm und Belästigung abfällt.

Auf dem Weg zur Kontrollgesellschaft?
Werden wir langsam zu einer sich im Sauberkeits- und Ordnungswahn verlierenden Kontrollgesellschaft? Staatsrechtler Fleiner warnt vor der «herrschenden Tendenz, unsere von der Verfassung geschützten Grundrechte auf Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken». Er findet, der öffentliche Raum solle jedermann in gleicher Weise zur Verfügung stehen. Fleiner staunt über die Gleichgültigkeit gegenüber den Einschränkungen. Warum wehren sich die Bürger nicht? Politiker hätten das Gefühl, «mit solch repressiven Forderungen die Popularität auf ihrer Seite zu haben». Und für viele Menschen handle es sich wohl um abstrakte Regelungen, deshalb fühle sich niemand betroffen. «Noch nicht», fügt Fleiner an.