Zwei Tage in Haft, weil Staatsanwaltschaft schlampte
Eine Staatsanwaltschaft machte sich nicht einmal die Mühe, zwei Koordinaten in Google Maps einzutippen. Deshalb sass ein Afghane in Haft. Er ist kein Einzelfall.
Veröffentlicht am 1. April 2022 - 13:41 Uhr
Kurz vor Mitternacht kontrollieren im Juli 2020 Polizisten den jungen Afghanen Ali Jassim* (Name geändert) an der Stadtgrenze einer Schweizer Grossstadt. Sie verhaften ihn und stecken ihn für zwei Tage in Haft. Die Staatsanwaltschaft erlässt am nächsten Tag einen Strafbefehl: Jassim habe sich «wissentlich und willentlich» auf Stadtgebiet aufgehalten, obwohl das Migrationsamt ihm das untersagt hatte. Das Urteil: 1500 Franken Geldstrafe oder fünf Tage Gefängnis.
Über einen Bekannten erhält Jassim die Nummer eines Anwalts. Der möchte anonym bleiben. Er sei auf die Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft angewiesen und befürchte sonst Nachteile für seine Klienten. Der Anwalt gibt die im Strafbefehl angegebenen Koordinaten auf Google Maps ein und stellt fest: Jassim wurde ein paar Meter ausserhalb der Stadt festgenommen. Jassim hatte das bereits den Polizisten gesagt, die Staatsanwaltschaft machte sich aber nicht die Mühe, die Angaben im Rapport zu überprüfen. Und das, obwohl sie in einem Strafbefehlsverfahren als Richter fungiert.
Strafbefehle sind der Alltag der Schweizer Justiz. 92 Prozent der Verbrechen und Vergehen werden damit abgeurteilt. 2020 waren das 83'357. Staatsanwälte können Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten verhängen – gemäss Strafprozessordnung aber nur, wenn die beschuldigte Person den Sachverhalt eingestanden hat oder dieser anderweitig «ausreichend geklärt» ist. Im Fall von Ali Jassim geschah weder das eine noch das andere.
Der Beobachter sucht den Fehlbefehl des Jahres und rief dazu auf, ihm fragwürdige Strafbefehle zu schicken. Das grosse Echo zeigt: Jassim ist kein Einzelfall. Häufig wird der Sachverhalt schludrig abgeklärt. Die Konsequenzen treffen vor allem sozial schwache Menschen empfindlich. Insbesondere Ausländerinnen und Ausländer, die auch überproportional häufig im Gefängnis landen.
Ohne Anwalt wäre Jassims Strafbefehl ohne gerichtliche Überprüfung nach zehn Tagen rechtskräftig geworden. Da er die Busse nicht hätte bezahlen können, wäre er ins Gefängnis gekommen und die Straftat wäre ans Migrationsamt gemeldet worden. Das hätte ihm den Weg zur Aufenthaltsbewilligung erschwert.
So wurde sein Strafverfahren aber eingestellt. Ali Jassim erhält eine Entschädigung von Fr. 507.90. Mittlerweile arbeitet er Vollzeit im Gartenbau und zahlt Steuern.
92 Prozent aller Verbrechen und Vergehen werden mit Strafbefehlen abgeurteilt. 2020 waren das 83'357. Ohne ein Gericht überzeugen zu müssen, können Staatsanwälte Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten aussprechen. Trotz dieser grossen Macht wird ihre Arbeit kaum kontrolliert. Der Beobachter möchte das ändern.
In Kooperation mit dem Verein Entscheidsuche.ch und einer hochkarätigen Jury küren wir den Fehlbefehl 2022. Schicken Sie uns Ihren Strafbefehl, den Sie stossend finden, mit einer kurzen Beschreibung des Falls an strafbefehl@beobachter.ch oder anonym unter sichermelden.ch.
Wer beschuldigt wird, eine Straftat begangen zu haben, sollte sich unweigerlich mit der Schweizer Strafprozessordnung vertraut machen. Der Beobachter erklärt Mitgliedern nicht nur diverse Fachbegriffe der Gerichtssprache, sondern bietet auch eine Checkliste zu Punkten an, die man generell beachten sollte, um in der Strafuntersuchung nicht unter die Räder zu kommen.
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4 Kommentare
Traurig aber....
meiner Meinung nach wird hier zu oft das nicht Verstehen der Sprache oder das nicht Auswendig-Wissen eines jeden Paragraphen ausgenutzt! Ausserdem, und das empfinde ich als einfach nur noch als traurig:
Getroffen werden damit vor allem diejenigen, die sich - schon rein finanziell - nicht verteidigen können.
Weder ist es den unteren Einkommen möglich den gewünschten oder besser gesagt den geeigneten Anwalt zu leisten, noch sich gegen etwaige Gebühren, Bussen ect. (von denen ja eigentlich immer gesagt wird, dass sie dem entsprechenden Einkommen angepasst werden...) zu wehren.
Das ist natürlich schlechte Arbeit von der Justiz resp. von der Staatsanwaltschaft (und vermutlich auch von der Polizei). Trotzdem geht aus dem Bericht nicht ganz hervor, weshalb Ali Jassim vorgängig vom Migrationsdienst mit einer Fernhaltung vom Stadtgebiet weggewiesen wurde. Nach meinem Rechtsverständnis wird mit einer solchen Massnahme nur belegt, wer zuvor Straftaten begangen und namentlich die öffentliche Sicherheit und Ordnung auf einem gewissen Gemeindegebiet gestört hatte (wie es in Juristen-Deutsch oft geschrieben wird). Demzufolge müsste der Bürger und Leser, welcher vielleicht etwas weniger versiert ist in diesem Themenbereich, meines Erachtens besser aufgeklärt werden.
Sowas wie hier beschrieben, geht nicht, ist einer sorgfältigen Rechtspflege nicht würdig. Der betreffende Staatsanwalt sollte eruierbar sein, seine schlampige Arbeit muss in der Qualifikation berücksichtigt werden.
Schweiz - Schweizer Justiz-Behörden/Bundesamt für Justiz - "Kuscheljustiz"....?
Ein mächtiger Bereich, welcher längst einer Revision betreffend "effektiven Fähigkeiten und Kompetenzen....." der Zuständigen bedarf!