Taten, die niemand begangen hat
Lautstark diskutieren Medien und Politik die polizeiliche Kriminalstatistik jedes Jahr. Doch sie wird oft überschätzt.
Veröffentlicht am 3. Juni 2024 - 08:02 Uhr
«Mehr Betrug, mehr Beschuldigte, ein Tötungsdelikt pro Woche» – «Importierte Kriminalität ausser Kontrolle!» – «Schlimmer als gedacht». Wenige Statistiken sorgen in Medien und Politik für dramatischere Worte als die jährliche polizeiliche Kriminalstatistik.
Dabei sind die Zahlen weit weniger aussagekräftig, als man meinen könnte. Das kritisiert Jurist und Kriminologe Benjamin Stückelberger von den Demokratischen Jurist*innen Basel. In einem neuen Beitrag der Fachzeitschrift «Plädoyer» stellt er die wichtige Frage: Was sagt uns die polizeiliche Kriminalstatistik eigentlich – und was nicht?
Kriminalstatistik ist nur begrenzt aussagekräftig
Die Kriminalstatistik ist laut Bundesamt für Statistik eine indirekte Messung der Kriminalität, die auf den polizeilich registrierten Straftaten basiert. Entscheidend ist das Stichwort «polizeilich registriert». Mit den tatsächlich begangenen Straftaten haben die Zahlen nur begrenzt etwas zu tun.
Einerseits fehlt darin – das kritisiert Jurist Stückelberger – die Dunkelziffer der nicht erfassten Straftaten. Und andererseits werden die Zahlen durch viele weitere Umstände beeinflusst. Das Bundesamt für Statistik nennt etwa das Anzeigeverhalten, das «je nach Bereich, in dem die Straftat begangen wurde, stark variiert».
Auch blosser Verdacht wird in der Kriminalstatistik verzeichnet
Einfluss haben aber auch die Ressourcen der kantonalen Polizeibehörden, die Richtlinien der Staatsanwaltschaften und Gesetzesänderungen. Dazu kommt: «Justizverfahren, Freisprüche und Verfahrenseinstellungen […] werden somit in der Statistik nicht berücksichtigt.» Will heissen: Auch wenn sich ein Verdacht nicht bestätigt, taucht er in der Statistik auf.
Problematisch findet das Benjamin Stückelberger vor allem dann, «wenn die Statistik von der Polizei oder der Politik genutzt wird, um Forderungen zu begründen, die sie sowieso schon hatte», wie er dem Beobachter sagt.
Problematische Zahlen zu Ausländern
Zum Beispiel hätten mehrere Polizeikorps den Mitarbeitenden die Anweisung gegeben, möglichst alle Handlungen gegen die Polizei als «Drohung gegen Beamte» zu melden. Daraufhin seien die Zahlen gestiegen.
Ein Problem sieht Stückelberger auch bei den Zahlen zu Ausländerinnen und Ausländern. Einerseits sind ausländische Personen in der Statistik von Natur aus übervertreten, da auch Verstösse gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz festgehalten werden – ein Gesetz, gegen das Personen mit Schweizer Pass fast nicht verstossen können. Andererseits sagt Stückelberger: Wenn die Polizei aufgrund von gewissen Vorurteilen mehr Kontrollen bei Ausländerinnen und Ausländern durchführt, beeinflusse das die Zahlen.
Polizei kann «Anstieg» selbst verursachen
Ein gutes Beispiel dafür lieferte kürzlich der Kanton Zürich. In der Kriminalstatistik von 2023 ortet er den grössten Anstieg an Delikten bei «Personen aus dem Asylbereich und Kriminaltouristen». Gleichzeitig schreibt der Kanton, die Polizei habe in einer «koordinierten Aktion bei insgesamt 240 gezielten Zugriffen rund 400 Verhaftungen vorgenommen». Damit dürfte die Polizei einen relevanten Teil des «Anstiegs» selbst verursacht haben.
Stückelberger sieht aber auch Bereiche, in denen die Statistik aussagekräftig ist: «Bei Einbruchdiebstählen etwa verlangen Versicherungen normalerweise eine Anzeige bei der Polizei, damit sie bezahlen. Die Zahlen dazu dürften deshalb relativ nahe an der tatsächlichen Anzahl Delikte sein.» Hier könne man mit etwas Vorsicht die kurzfristige und regionale Entwicklung interpretieren.
1 Kommentar
Die Argumentation im letzten Absatz unterstellt, dass die meisten eine Einbruchdiebstahlversicherung haben und den Schaden melden; selbst wenn der Schaden den Selbstbehalt in monetärer Hinsicht nicht übersteigt oder eventualite der Vertrag innerhalb einer anfänglichen Karenzfrist liegt oder Versicherte den im dem Fall geringen Schaden zwecks Vermeidung der Kündigung im Schadenfall durch den Versicherer vermeiden.
Insoweit könnte es besser lauten: Bei Einbruchdiebstählen etwa verlangen Versicherungen normalerweise eine Anzeige bei der Polizei, damit sie bezahlen. Die Zahlen dazu dürften deshalb näher an der tatsächlichen Anzahl Delikte sein als bei anderen Delikten.