Eine Pille zu viel
Beeinträchtigt ein Medikament die Fahrtüchtigkeit, muss auf der Packung ein Warnhinweis stehen: Was in der EU zur Pflicht wird, wurde in der Schweiz verpasst.
Veröffentlicht am 27. August 2012 - 17:04 Uhr
Der Vorschlag lag schon einmal auf dem Tisch. «Mit einem Hinweis auf Medikamentenverpackungen (zum Beispiel Piktogramm) wird auf die fahrfähigkeitsbeeinträchtigende Wirkung des Medikaments aufmerksam gemacht.» So stand es 2005 im Schlussbericht von Via Sicura, dem ehrgeizigen Programm des damaligen Verkehrsministers Moritz Leuenberger «für mehr Sicherheit im Strassenverkehr» – als Massnahme Nummer 405.
Im Juni hat das Parlament das Via-Sicura-Programm angenommen – ohne Warnhinweise auf Medikamentenpackungen. «Leider wurde der Vorschlag nicht umgesetzt», meint der Touring-Club Schweiz (TCS). «Sehr bedauerlich» findet das Fehlen von Piktogrammen der Verkehrsmediziner Bruno Liniger von der Uni Zürich. «Ein Trauerspiel, die Schweiz hat hier argen Nachholbedarf», kommentiert der Pharmazeut Richard Egger vom Kantonsspital Aarau. Denn andere Länder sind in dieser Sache längst aktiv.
Unbestritten ist, dass viele Medikamente das Fahrverhalten stark beeinträchtigen. Genauso wie Alkohol und andere Drogen und in Kombination mit ihnen umso stärker. Doch Verkehrsmediziner Bruno Liniger von der Rechtsmedizin der Universität Zürich stellt immer wieder fest: «Das Risiko von Medikamenten im Strassenverkehr wird absolut unterschätzt. Es herrscht kein Unrechtsbewusstsein darüber, sich mit Tabletten hinters Steuer zu setzen», zumal Medikamente bei Krankheiten wie Diabetes die Fahreignung und Fahrfähigkeit überhaupt erst gewährleisteten.
Bei Alkohol sei die 0,5-Promille-Grenze eingeführt worden, und bei den Drogen gelte eine Nulltoleranz. Dagegen werden Medikamente, insbesondere die rezeptfreien, von vielen Menschen als harmlos wahrgenommen. «Ein gefährlicher Trugschluss», sagt Bruno Liniger.
Die Berner Gesundheitsbehörden verweisen darauf, dass jeder grundsätzlich eigenverantwortlich handle. Und auf der Packungsbeilage sei ja festgehalten, wie eine Arznei das Fahrverhalten beeinflusse. Das liest sich konkret etwa so: «...kann die Reaktionsfähigkeit, die Fahrtüchtigkeit und die Fähigkeit, Werkzeuge oder Maschinen zu bedienen, beeinträchtigen. Deshalb sollten Sie weder Fahrzeuge lenken noch Maschinen bedienen, bis die individuelle Sensibilität abgeklärt ist.»
«Völlig unbrauchbar» findet solche Angaben der Chefapotheker des Kantonsspitals Aarau, Richard Egger. «Was heisst denn ‹beeinträchtigen› genau», moniert er, «und wie lange dauert es, bis die individuelle Sensibilität geklärt ist? Einen Tag, einen Monat, ein Jahr? Und wer entscheidet das? Der Patient? Der Arzt?» Die Fachinformationen seien so vage und allgemein formuliert, dass sie kaum verstanden und häufig gar nicht gelesen würden, so Egger.
Manager Stefan Kater* hat jedenfalls keine Bedenken, als er sich nach einer halbdurchwachten Nacht ins Auto setzt, um zu einer Geschäftssitzung zu fahren. Bis in die frühen Morgenstunden ist er mit den Vorbereitungen beschäftigt und kann dann nicht einschlafen. Deshalb schluckt er eine Schlaftablette. Die Packungsbeilage findet er nicht, die Tabletten gehören seiner Frau. Nach fünf Stunden Schlaf und einem hastigen Frühstück ist der Morgenverkehr wie immer, Stau, Halten an den Ampeln, Anfahren, Abbremsen. Doch ehe er sichs versieht, ist er dem vorderen Auto ins Heck gefahren. Der Tag ist gelaufen. Kater ist seinen Führerausweis los und hat ein Strafverfahren am Hals – das Fahren unter Schlafmitteleinfluss gilt als Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz.
Manche Experten vermuten, dass Medikamente für genauso viele Unfälle verantwortlich sind wie Trunkenheit am Steuer. Genaue Daten gibt es kaum. Denn im Gegensatz zu Alkohol oder Drogen existiert kein Schnelltest, mit dem man Medikamente vor Ort nachweisen kann. Erst die Untersuchung einer Blutprobe gibt Aufschluss darüber, ob und welche Arzneistoffe im Spiel waren. Ein kostspieliges Verfahren, auf das meistens verzichtet wird, wenn Alkohol- oder Drogenmissbrauch feststehen. Kater machte bei seinem Unfall den «Fehler», der Polizei bereitwillig von seiner nächtlichen Schlaftablette zu berichten. Nur deshalb wurde er bestraft. Wie verbreitet das Problem sein muss, lässt sich aber aus verschiedensten Daten ableiten:
- Eine Erhebung einer grossen Schweizer Krankenversicherung ergab, dass 14,8 Prozent aller Versicherten während eines Monats mindestens ein Medikament bezogen, das die Fahrfähigkeit verringert.
- Autolenker zwischen 45 und 65 verursachen überdurchschnittlich viele Unfälle wegen Medikamentenkonsums. Das zeigt ein 2008 erstellter Bericht der Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU).
- Im Alter steigt der Medikamentenkonsum stark an. Die BfU zeigt in einer Statistik, dass bei über 70-jährigen Frauen 11,3 Prozent täglich ein Schlafmittel und 4,9 Prozent täglich ein Beruhigungsmittel schlucken. Bei den gleich alten Männern sind es 6,8 beziehungsweise 4,2 Prozent.
- Benzodiazepine, die Wirkstoffgruppe vieler Schlaf- und Beruhigungsmittel, sind bei Autofahrern in verschiedenen europäischen Ländern die dritthäufigste Substanz (nach Alkohol und THC/Cannabis), die auf das zentrale Nervensystem wirkt.
Das letzte Ergebnis stammt aus dem grossangelegten EU-Forschungsprojekt Druid. Eines der Ziele von «Driving under the Influence of Drugs, Alcohol and Medicines» bestand darin, Autolenker für den Einfluss von Medikamenten zu sensibilisieren. 19 EU-Staaten beteiligten sich daran. Die Schweiz war marginal dabei, aber nicht in die Hauptprojekte eingebunden.
In einem Teilprojekt untersuchten Pharmazeuten über 3000 Arzneien auf die Frage hin, ob und wie jede einzelne die Fahrtüchtigkeit beeinflusst. Bei den Versuchen diente Alkohol als Referenzdroge: Die Probanden schluckten entweder ein Placebo, eine bestimmte Dosis eines Medikaments oder eine genau definierte Menge Alkohol. Anschliessend mussten sie am Lenkrad Manöver absolvieren. Dabei wurden ihr automatisiertes Fahrvermögen – die im Stammhirn «abgelegten» Fertigkeiten – und das durch die Hirnrinde kontrollierte aktuelle Können am Steuer geprüft.
Aufgrund dieser Daten teilten die Forscher die Arzneien in vier Kategorien ein. Kategorie 0 bedeutet «sicheres Autofahren», Kategorie I heisst «minimer Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit», II «moderater Einfluss» und III «schwerwiegender Einfluss» auf die Fahrtüchtigkeit. Jedes zweite Medikament fiel in die Kategorie 0. In die Kategorie I fielen 26 Prozent, in die Kategorie II 11,2, in die Kategorie III 5,8 Prozent. Rund sieben Prozent der Medikamente liessen sich nicht klassifizieren.
Diese Zertifizierung wird in den Ländern der EU nun laufend durchgeführt. Das geschieht mit Piktogrammen von Grün über Gelb und Orange bis Rot, die auf die Medikamentenpackungen geklebt werden. Dazu kommen je nach Gefährdungsstufe die passenden Aufforderungen: «Seien Sie vorsichtig», «Seien Sie sehr vorsichtig», «Gefahr: Fahren Sie nicht Auto». Ausserdem erhalten alle Apotheken ein Computerprogramm, mit dem sie alle Informationen zu einem Medikament abrufen und entsprechende Etiketten ausdrucken können. Apotheken und Ärzte werden zudem verpflichtet, die Patienten über den Einfluss eines Medikaments auf die Fahrtüchtigkeit schriftlich zu informieren.
In der Schweiz fehlen solche Anstrengungen gänzlich. Dabei hatte der damalige Verkehrsminister Leuenberger das Thema durchaus auf dem Radar. In seinem Bericht zur Vernehmlassung von Via Sicura schlug das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation 2008 vor, «eine entsprechende Informationspflicht durch Fachpersonen bei der Abgabe von Arzneimitteln» einzuführen. Leuenberger machte sich auch für eine Kennzeichnung von Medikamentenpackungen mit Piktogrammen stark. Die entsprechenden Vorschriften könnte das Heilmittelinstitut Swissmedic auf Verordnungsstufe erlassen.
Zwei Jahre später, am 3. Februar 2010, liess der Bundesrat das Thema fallen wie eine heisse Kartoffel. Bei Swissmedic heisst es dazu, für Warnhinweise habe es auf der Faltschachtel ohnehin keinen Platz.
*Name geändert