Von der Polizei invalid geschossen
Ein Aargauer Polizeigrenadier schiesst einem Mann zwei Kugeln in den Bauch. Dessen «Delikt»: Er wollte sich umbringen. Der Kripochef persönlich hatte den Einsatz abgesegnet.
aktualisiert am 16. Dezember 2011 - 11:07 Uhr
Das Bundesgericht verlangt, dass ein ausserordentlicher Staatsanwalt den umstrittenen Polizeieinsatz in Wohlen AG untersuchen muss.
Montag, 25. Mai 2009, 21.48 Uhr: Sechs Polizeigrenadiere rammen die Eingangstür einer Dreizimmerwohnung in Wohlen AG. Im Einsatz: die Sondereinheit Argus in Vollmontur. Das Objekt: ein 30-jähriger Mann, allein zu Hause, zwar stark alkoholisiert, aber für niemanden eine Gefahr. Ausser für sich selbst: Er droht, sich umzubringen. Als er ein einfaches Küchenmesser zückt, schiesst ihm ein kugelgesicherter Elitepolizist zwei Mal in den Bauch.
Der Serbe Zeljko B.* wird notfallmässig operiert und verliert zwei Drittel seines Darms. Eine Kugel steckt noch immer neben der Wirbelsäule. Seit dem Vorfall ist der Mann, den sein langjähriger Arbeitgeber als fleissig und seine Nachbarn als friedlich und fröhlich bezeichnen, arbeitsunfähig. Er lebt von einem Taggeld der Suva von 1200 Franken monatlich.
Gegen den schiessenden Polizisten wurde ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung eingeleitet. Doch das droht jetzt eingestellt zu werden, weil der Polizist sich auf Notwehr beruft: Er habe schiessen müssen, weil Zeljko B. mit erhobenem Messer auf ihn zugegangen sei, gab der Grenadier zu Protokoll. «Ein milderes Mittel hätte mit Sicherheit nicht zum Erfolg führen können», betonte er. «B. hätte mich mit dem Messer massiv verletzen können.»
Ob das Rüstmesser mit einer Klinge von elf Zentimetern Länge für den Elitepolizisten überhaupt eine Gefahr gewesen war, liessen die Untersuchungsbehörden nie abklären. Zeljko B. musste schliesslich selbst ein Gutachten in Auftrag geben – beim renommierten Basler Polizeiexperten Markus Mohler.
Das Fazit des Fachmanns ist eindeutig: Mit diesem Messer hätte B. den Polizisten in keiner Art und Weise verletzen können, schreibt der langjährige Kommandant der Basler Kantonspolizei und Lehrbeauftragte für Polizeirecht in seinem 26-seitigen Gutachten. Der Polizeigrenadier in Vollmontur trug nämlich einen Helm mit Gesichtsschutz und eine kugelsichere Weste. Zudem waren die sechs Grenadiere in Nahkampf geschult und mit Mehrzweckstöcken, Pfefferspray und einem Elektroschockgerät (Taser) bewaffnet. Mildere Mittel gegen Zeljko B. wären also mit «grösster Wahrscheinlichkeit erfolgreich gewesen», meint Mohler und kommt zum Schluss, dass «der Einsatz der Feuerwaffe nicht gerechtfertigt war, das Vorgehen der Polizei somit nicht korrekt».
Der Gutachter sieht aber nicht nur beim Schützen grobe Fehler, sondern beim gesamten Einsatz der Polizei – bis hinauf zum Aargauer Kripochef Urs Winzenried. Mohlers Fazit: «Es kann nicht Sinn einer polizeilichen Intervention zur Verhinderung eines Suizids sein, Massnahmen mit potentieller Todesfolge zu wählen.» Im Klartext: Es ist Unsinn, einen Mann fast zu töten, um ihn vor dem Selbstmord zu bewahren.
Diese Schlussfolgerung stützt der Gutachter auf eine detaillierte Analyse der Vorgänge in der Tatnacht: Zeljko B. stritt sich abends kurz vor acht mit seiner Ehefrau. Dabei betrank er sich, zertrümmerte einen Aschenbecher, trug Schnittwunden an Hand und Fuss davon. Die Gewalt richtete er aber – wie die Strafuntersuchung zweifelsfrei ergab – nur gegen sich selbst, nie gegen seine Frau oder das dreijährige Kind. Die Ehefrau verliess mit dem Kind die Wohnung und rief die Polizei, weil sie Angst hatte, ihr Mann könnte sich etwas antun.
Doch da eskalierte die Sache: Ein Polizist der Regionalwache forderte Verstärkung an, nachdem der alkoholisierte B. ihn mit dem Messer bedroht hatte. Bald standen 14 Polizisten unter dem Balkon, auf dem B. herumzeterte und von dem er sich mehrmals fast hinabstürzte. Ein Freund versuchte Zeljko B. vom Garten aus zu beruhigen. Doch B. hatte Angst vor der Polizei und wollte, dass der Freund zu ihm in die Wohnung käme. Das untersagte der Einsatzleiter der Polizei und fragte stattdessen Kripochef Winzenried an, ob er die Sondereinheit Argus einsetzen dürfe – die Elitetruppe der Aargauer Polizei mit Pistolen, Westen und Helmen in Science-Fiction-Manier. Per Telefon gab Winzenried die Erlaubnis zum Argus-Einsatz, wenn die Situation eskalieren und «zu einer Fremd- oder Eigengefährdung führen würde».
Diese Einwilligung – ohne Auflagen, auch nicht punkto Feuerwaffeneinsatz – widerspricht gemäss Gutachter Markus Mohler dem Aargauer Polizeigesetz. Winzenried hätte sie so nie geben dürfen, weil weder die Polizisten noch andere Personen gefährlich angegriffen oder unmittelbar bedroht wurden. Der Kripochef hätte den Einsatz der Sondereinheit Argus stark einschränken, wenn nicht gar ganz verbieten müssen, kritisiert der Experte.
Damit nicht genug. Der Einsatzleiter der Polizei gab nach einer halben Stunde den Befehl, die Wohnung zu stürmen, obwohl Zeljko B. sich allein darin befand und für Dritte ungefährlich war. Ein völlig falscher Entscheid, kritisiert Experte Mohler. Seine Schlussfolgerung: «Auf den Einsatz der Sondereinheit hätte verzichtet werden müssen.» Die Polizei hätte warten müssen, bis Zeljko B. wieder nüchtern geworden wäre. Doch diese Möglichkeit habe der Einsatzleiter mit keinem Gedanken erwogen und auch keine Hilfe eines Psychologen angefordert, moniert der Gutachter.
Gegen den Einsatzleiter und den Kripochef wurde nie ein Strafverfahren eingeleitet. Im Gegenteil: Kripochef Winzenried – ein mutmasslicher Mitverantwortlicher – wurde vom Untersuchungsrichter sogar an die Tatrekonstruktion eingeladen, obwohl er am fraglichen Abend gar nicht vor Ort gewesen war.
Und damit zeigen sich gemäss dem Polizeiexperten auch schwere Mängel im Strafverfahren. So befragte der Untersuchungsrichter zum Beispiel die weiteren fünf Polizisten der Sondereinheit Argus nie. Diese durften Rapporte schreiben – «was Absprachen ermöglichte», rügt Mohler und kommt zum Schluss, dass die Untersuchungsbehörden «in einem zu engen kollegialen Verhältnis zu den (insbesondere höherrangigen) Angehörigen der Kantonspolizei stehen».
Genau deshalb hatte Matthias Brunner, der Anwalt von Zeljko B., bereits Monate zuvor verlangt, dass ein ausserkantonaler Untersuchungsrichter mit dem Fall betraut würde. Vergeblich. Sein Gesuch wurde von sämtlichen Instanzen bis hin zum Bundesgericht abgelehnt. Doch damals waren die von Gutachter Mohler monierten wichtigen Mängel der Untersuchung noch nicht bekannt: etwa die fehlenden Abklärungen, ob der Polizist durch das Messer gefährdet war oder ob die Bewilligung des Einsatzes der Grenadiere korrekt war. Und der Untersuchungsrichter wollte Zeljko B. gar ganz aus dem Verfahren drängen, indem er ihm sämtliche Parteirechte absprach – so hätten Polizei und Untersuchungsbehörden den Fall unter sich ausmachen können. Erst das Aargauer Obergericht korrigierte diesen Fehlentscheid.
Für Anwalt Brunner ist klar, «dass die Strafuntersuchung bisher weder sorgfältig noch fair war». Deshalb hat er beim Aargauer Regierungsrat Urs Hofmann das Gesuch gestellt, nun doch einen ausserkantonalen Untersuchungsrichter einzusetzen und das Strafverfahren auf den Kripochef und den Einsatzleiter auszuweiten. Mit Erfolg: Hofmann erachtet die «Unabhängigkeit der Strafuntersuchung nicht als gegeben». Es bestehe zumindest der Anschein der Befangenheit. Weil der Regierungsrat jedoch nicht zuständig sei, leite er die Eingabe an das Obergericht weiter «mit dem Antrag, einen ausserkantonalen Staatsanwalt einzusetzen».
Untersuchungsbehörden und Kripochef Winzenried nehmen zu den Vorwürfen keine Stellung, da es sich um ein laufendes Verfahren handelt.
«Hätte die Polizei mir die Schulter ausgerenkt, könnte ich das akzeptieren», sagt Zeljko B., «aber nicht, dass sie mir zwei Kugeln in den Bauch schiesst.» Und seine Frau meint nach kurzem Nachdenken: «Ich rief die Polizei um Hilfe – doch statt meinem Mann zu helfen, haben sie ihn invalid geschossen.»
* Name der Redaktion bekannt