Die Wirtschaft und Telekomanbieter in der Schweiz sind sich weitgehend einig: Die geltenden Grenzwerte für elektromagnetische Strahlung für den Mobilfunk seien zu streng und müssten erhöht werden. Nur so könnten die Kapazitäten für die neue ultraschnelle Mobilfunkgeneration 5G geschaffen werden, nur so könne vermieden werden, dass das Netz kollabiere und die Schweiz digital den Anschluss verliere.

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Mobilfunkgegner, zahlreiche kritische Wissenschaftler und Ärzte argumentieren demgegenüber, der Pegel des elektromagnetischen Strahlenmeers stehe schon hoch genug und dürfe keinesfalls erhöht werden. Ansonsten drohten kaum abschätzbare Risiken.

Am 5. März entscheidet der Ständerat über eine Motion zum Thema. Der Bundesrat, der letztlich in eigener Kompetenz entscheiden darf, gab bereits bekannt, dass er für eine Erhöhung der geltenden Grenzwerte eintritt.

Was muss man dazu wissen? Und wie streng sind die Schweizer Regelungen im internationalen Vergleich wirklich?

Zehnmal strengere Grenzwerte? Jein.

Für Swisscom-Netzchef Heinz Herren wäre die Schweiz trotz höherer Grenzwerte noch immer auf der sicheren Seite. Sie könnten deshalb problemlos «moderat» erhöht werden. Dem «Tages-Anzeiger» gab er unlängst zu Protokoll: «Unsere Grenzwerte sind im europäischen Vergleich um das Zehnfache strenger.» 

Das ist zwar nicht falsch, aber eben auch nicht die ganze Wahrheit. Korrekt ist: In der Schweiz gelten die Immissionsgrenzwerte gemäss den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Internationalen Kommission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung (ICNIRP) genauso wie in den meisten andern europäischen Ländern auch. Diese Werte liegen bei 41 bis 61 Volt/Meter.

Es sind allgemein gültige Sicherheitswerte, sie müssen überall und unbedingt eingehalten werden, drinnen, draussen, für die ganze Bevölkerung. Nur für Arbeiter und Monteure auf Dächern mit Mobilfunkantennen gelten Ausnahmebestimmungen. Die Messmethoden zur Einhaltung dieser international gültigen Sicherheitsbestimmungen sind allerdings unterschiedlich. In der Schweiz betont man gerne, man messe hierzulande maximale Abstrahlungen, während im Ausland vielerorts nur (tiefere) Mittelwerte ausgewiesen würden.

Verwirrende Grenzwerte

Eine tatsächlich strengere Regelung als viele Länder kennt die Schweiz mit dem so genannten Anlagegrenzwert. Die Anlagegrenzwerte sind so genannte Vorsorgewerte. Sie sollen die Strahlung soweit als möglich begrenzen und die Bevölkerung auch in einiger Entfernung der Antennen schützen, wo die Strahlungswerte ohnehin schon deutlich tiefer sind. Sie liegen deshalb rund zehnmal tiefer als die medizinisch biologisch relevanten Immissionsgrenzwerte, nämlich bei 4 bis 6 V/M. Diese strengen Vorsorgewerte müssen aber nur an Orten mit empfindlicher Nutzung (Omen) eingehalten werden, wo sich Menschen über längere Zeit aufhalten: Büros, Wohnräume, Schulen, Krankenhäuser etc. Nicht darunter fallen öffentliche Parks, Schwimmbäder, öffentliche Plätze, Terrassen.

Aber auch diese Grenzwerte, die in der Schweiz explizit nur für empfindliche Nutzung vorgeschrieben sind, liegen nicht zehnmal tiefer als im gesamten europäischen Vergleich. Zwar ist es richtig, dass Länder wie etwa Deutschland, Grossbritannien, Schweden, Niederlande und andere mehr nur die WHO-Immissionsgrenzwerte festschreiben. Aber Länder wie etwa Polen, Russland, Monaco, Litauen und Bulgarien haben vergleichbar strenge Vorschriften wie die Schweiz, und diese sind dort sogar als allgemein gültige Immissionsgrenzwerte definiert und gelten nicht nur für besonders schützenswerte Zonen.

Ein Monitoring zeigt die Strahlung

Die zentrale Frage ist deshalb, wie ändert sich die mögliche massgebende Belastung durch elektromagnetische Wellen in der Schweiz, wenn die Anlagegrenzwerte erhöht werden sollten? In der Region Luzern wird die elektromagnetische Strahlung seit rund zehn Jahren für fast jeden Standort aufgrund von Einzelmessungen permanent modelliert und ist öffentlich und via Internet einsehbar. Die maximal zulässigen Anlagegrenzwerte werden heute laut diesen Angaben an keinem Ort auch nur annähernd erreicht.

Rein rechnerisch würde eine Erhöhung nicht dazu führen, dass auch die viel höheren, maximal tolerierbaren und unbedingt einzuhaltenden WHO-Immissionsgrenzwerte erreicht oder gar überschritten würden. Diese hohen Grenzwerte gelten in jedem Fall nach wie vor. Wenn also, etwa auf einer Raucherplattform auf dem Dach eines Antennengebäudes, die Strahlung durch stärkere Sendeanlagen den Immissionsgrenzwert erreichen sollte, muss die Leistung der Antennen wieder zurückgefahren werden, bis der Immissionsgrenzwert rund um die Anlage eingehalten wird. Trotzdem wird sich vielerorts im öffentlichen Raum die elektromagnetische Strahlung erhöhen, wenn Sendeanlagen aufgrund höherer Anlagegrenzwerte bald stärker senden dürfen als heute.

Wo liegen die Risiken?

Die bis jetzt wissenschaftlich dokumentierten biologischen Effekte treten praktisch ausschliesslich bei starker Exposition auf, also dann, wenn sich das Handy direkt am Ohr oder am Körper befindet oder eben wenn man sich sehr nahe bei einer Antenne aufhält. Für die deutlich schwächere Funkstrahlung entfernterer Antennen und für die viel diskutierten W-Lan-Stationen gibt es nach heutigem Stand des Wissens keine Belege für direkte gesundheitliche Risiken.

Nur: Die unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlenen Sicherheitswerte stützen sich auf medizinische oder biologische Erkenntnisse aufgrund rein thermischer Effekte, die von Handys und – in weit geringerem Mass – von Antennen und W-Lan-Stationen ausgehen.

Langfristige Effekte einer dauernden, aber relativ niedrigen Bestrahlung sind jedoch nach wie vor kaum abzuschätzen und nicht auszuschliessen. Ebenfalls offen bleibt die Frage nach nicht thermischen Einwirkungen der Mikrowellen auf Mensch, Pflanzen und Tiere. Es gibt zahlreiche Hinweise auf Effekte, die nicht durch die Wärmewirkung der Strahlung erklärt werden können. So gibt es Studien, die den Verdacht nahelegen, dass das Gedächtnis und die Hirnströme beeinflusst werden können. Auch im Tierreich gibt es Hinweise auf Effekte, etwa bei Zugvögeln, deren Orientierungssinn das Magnetfeld der Erde nutzt. Erste Untersuchungen deuten auch darauf hin, dass die Belaubung von Bäumen im Richtstrahl von Mobilfunkantennen geschädigt werden könnte.

Gerade weil es so viele Hinweise und Unklarheiten gibt über eventuelle und auch langfristig mögliche Auswirkungen auch bei niedrigeren Dosen elektromagnetischer Strahlung, will Frankreich die geltenden Grenzwerte bereits auf diesen Herbst hin drastisch verschärfen. Sie lägen damit im Endeffekt sogar noch deutlich tiefer als die heute in der Schweiz geltenden wichtigen Anlagegrenzwerte.

FMH-Ärzte warnen

Die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) schreibt deshalb in einer aktuellen Stellungnahme: «Aus wissenschaftlicher Sicht sollte auf eine Erhöhung der Grenzwerte verzichtet werden.» Die FMH verweist in ihrem kurzen Argumentarium auf aktuell laufende Studien. So zeigten erste Teilergebnisse einer grossen Tierstudie in den USA einen Zusammenhang zwischen Mobilfunkstrahlung und Krebserkrankungen bei Ratten. Dies allerdings bei Belastungen, die weit weg von den Anlagegrenzwerten sind und der maximal zulässigen Exposition durch ein Handy entsprechen. Dennoch: Bevor die definitiven Resultate dieser Studie nicht vorliegen, so die FMH, sollten die aktuellen Grenzwerte bei den strengen, heutigen Vorgaben belassen werden. Die Ärzteverbindung verlangt zudem den Aufbau eines Monitorings nach dem Vorbild von Luzern für die ganze Schweiz, «um die gesundheitlichen Auswirkungen zu erforschen».

Tatsächlich versprach der Bundesrat auf eine entsprechende, im vergangenen Dezember im Nationalrat eingereichte Motion eine Überwachung der Mobilfunkstrahlung «soll gesamtschweizerisch eingeführt werden». Die Kosten für ein solches Monitoring für die nächsten zehn Jahre werden auf rund sieben Millionen Franken geschätzt.

Der Bundesrat schlägt vor, die Finanzierung im Rahmen der Revision des Fernmeldegesetzes zu regeln und einen Teil der Erlöse aus den Funk-Konzessionsgebühren dafür einzusetzen. Und er beteuert: «Sobald die Finanzierung sichergestellt und die genaue Ausgestaltung des Monitorings geklärt sind, wird der Bundesrat dessen Aufbau und Betrieb veranlassen.»

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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