«Keine Angst vor Keimen»
Ein früher Kontakt mit möglichst unterschiedlichen Bakterienfamilien schützt vor der Entstehung von Allergien, erklärt der Genfer Allergologe Philippe Eigenmann.
Veröffentlicht am 24. April 2018 - 15:51 Uhr,
aktualisiert am 24. April 2018 - 15:27 Uhr
Beobachter: Wenn ein Kind ein Spielzeug in den Mund nimmt, das auf dem Boden gelegen hat, sagen Sie dann: «Mach das nicht!»? Oder eher: «Gut so!»?
Philippe Eigenmann: Nur weil ein Gegenstand auf dem Boden war
, muss das Kind diesen nicht unbedingt waschen, bevor es ihn in den Mund nimmt.
Beobachter: Auch wenn dieser auf der Strasse war?
Eigenmann: Ein Gegenstand ist nicht automatisch mehr belastet, weil er draussen auf dem Boden gelegen hat. Wir vergessen oft, dass wir mit Keimen leben. Wenn ein Kind den Daumen in den Mund steckt, sind Bakterien drauf – auch der Mund ist voll von ihnen. Mehr Gefahr geht von einem Ding aus, mit dem ein Kind gespielt hat, das Schnupfen hat. Da würde ich sagen: «Waschen wir das Spielzeug, bevor du es in den Mund nimmst.»
Beobachter: Die Hygiene-Hypothese besagt, dass Keime vor Allergien schützen. Aber ein Kind muss dennoch nicht jeden Infekt durchmachen, um sich abzuhärten?
Eigenmann: Wenn ein Kind etwas in den Mund nimmt, was ein erkrankter Spielkamerad vorher in der Hand hatte, besteht das Risiko, dass es sich ansteckt. Die meisten Infekte sind harmlos, aber manche haben schlimmere Folgen. So kann sich aus einem Atemwegsinfekt eine Mittelohrentzündung entwickeln.
Beobachter: Warum sind Kinder, die auf Bauernhöfen aufwachsen, besser vor Allergien geschützt als Stadtkinder?
Eigenmann: Sie sind sicher einer grösseren Vielfalt von Keimen ausgesetzt. Das Immunsystem ändert sich dadurch so, dass sie weniger anfällig für Allergien sind.
Beobachter: Helfen Ferien auf dem Bauernhof zur Allergieprophylaxe?
Eigenmann: Nein, Tage oder Wochen reichen nicht. Am besten wirkt, wenn die Mutter schon schwanger auf dem Bauernhof ist und wenn das Kind dort aufwächst. Das Vorschulalter zählt.
Beobachter: Warum?
Eigenmann: Die Gründe kennen wir nicht im Detail. Wir haben Mäuse in einem Kuhstall aufgezogen und uns angeschaut, wie sie sich von Labormäusen unterscheiden. Das Immunsystem der Bauernhofmäuse war viel aktiver als das der Labormäuse – und zwar sogar schon bei sehr jungen Tieren. Ausserdem haben wir in den Fäkalien jeweils unterschiedliche Keime gefunden. Auch beim Menschen hat man bei Allergikern und Nichtallergikern unterschiedliche Keimprofile im Stuhl gefunden.
Beobachter: Heisst das, es gibt Bakteriengattungen, die vor Allergien schützen?
Eigenmann: Ja, es gibt Bakterienfamilien, die vor Allergien schützen. Bifidobakterien, die erstmals in der Darmflora von gestillten Kleinkindern entdeckt wurden, findet man eher bei gesunden Kindern, Clostridien, in deren Familie es Krankheitserreger gibt, dagegen eher bei allergischen. Wahrscheinlich reicht es aber nicht, nur eine Bakteriengattung zu betrachten. Im Darm existiert ein sensibles Gleichgewicht. Ausser Bakterien gibt es auch noch Viren und Pilze.
Beobachter: Sie haben bei den Stallmäusen viele Viren gefunden.
Eigenmann: Wir haben auffällig viele Mastadenoviren gefunden, die leichte Darminfekte verursachen können. Allerdings wissen wir nicht, ob das Auftauchen dieser Viren einen Effekt auf Allergien hat. Das ist noch gar nicht untersucht – es kann noch grosse Überraschungen geben, was die Rolle der Viren in der Darmflora betrifft.
«Ferien auf dem Bauernhof taugen nicht zur Allergieprophylaxe.»
Philippe Eigenmann, 56, forschte nach dem Medizinstudium und der Ausbildung zum Kinderarzt in Genf in den USA zum Thema Allergien. Zurück in Genf, entwickelte er die allergologische Sprechstunde für Kinder und sein Forschungszentrum. Seit 2012 ist Eigenmann ausserordentlicher Professor am Departement für Pädiatrie des Universitätsspitals Genf.
Beobachter: Schützt also Vielfalt in der Darmflora
vor Allergien?
Eigenmann: Menschen, die eine grössere Vielfalt von Bakterien haben, haben seltener Allergien als Menschen mit einer Darmflora aus nur wenigen Bakterienfamilien.
Beobachter: Bedeutet das auch, dass Antibiotika Allergien fördern?
Eigenmann: Es gibt Studien, die nahelegen, dass Kinder, die früh im Leben ein Antibiotikum bekommen haben, anfälliger für eine Allergie werden – und es gibt andere Untersuchungen, bei denen das Risiko nicht erhöht erscheint. Wahrscheinlich ist es ein Unterschied, ob die Mutter am Ende der Schwangerschaft drei Tage lang ein Antibiotikum nimmt oder ob das Kind sechs Monate lang ein solches Präparat bekommt, weil es einen schweren Infekt hat.
Beobachter: Wären Sie eher zurückhaltend mit Antibiotika-Gabe bei Kindern?
Auf jeden Fall. Es ist besser, wenn sich die Darmflora natürlich entwickeln kann. Man muss einen guten Grund haben, um diesen Prozess mit Antibiotika zu stören. Aber wenn ein Kind nachweislich einen bakteriellen Infekt hat, dann ist ein Antibiotikum natürlich das kleinere Übel.
Beobachter: Ist Stillen präventiv wirksam?
Eigenmann: Kinder sollten möglichst vier bis sechs Monate gestillt werden. Dafür gibt es viele Gründe – Allergieprävention ist jedoch keiner davon. Studien zeigen, wenn überhaupt, diesbezüglich nur eine schwache Wirkung. Mütter, die nicht stillen können oder wollen, sollten sich nicht unter Druck setzen.
Beobachter: Kann es helfen, «gute» Bakterien, sogenannte Probiotika, zu schlucken?
Eigenmann: In einigen Studien wurde gezeigt, dass Probiotika leicht vorbeugend gegen Allergien wirken – besonders hinsichtlich Neurodermitis bei Kleinkindern. Die Studien, die einen positiven Effekt zeigten, wurden vorwiegend in Finnland gemacht, Kinder bekommen dort ein Präparat mit Milchsäurebakterien. Ich sehe aber nicht, dass es eine grosse Wirkung haben kann, wenn man bloss eine Art von Bakterium schluckt.
Beobachter: Besser wäre ein Mix?
Eigenmann: Das wäre erfolgversprechender. Allerdings ist die orale Einnahme ohnehin nicht sehr effektiv. Nur ein kleiner Teil überlebt die Magensäure und gelangt in den Dünndarm. Wenn man Probiotika nimmt, sind die darin enthaltenen Bakterien nur kurz danach noch nachweisbar. Man muss sie also regelmässig, langfristig und wahrscheinlich in grosser Menge nehmen, damit sie nicht komplett verdaut werden. Bakterien in Kapseln sind wahrscheinlich effizienter als probiotikahaltiges Joghurt, weil sie vor der Magensäure geschützt sind.
Beobachter: Kann man mit Ernährung die Keimflora positiv beeinflussen?
Eigenmann: Milchsäurebakterien, die natürlicherweise in Milch und Milchprodukten vorkommen, haben einen schwach positiven Einfluss.
Beobachter: Ausgerechnet Milch – dabei hatte man sie im Verdacht, Allergien zu fördern!
Eigenmann: Ziemlich lange hat man hypoallergene Milch zur Allergieprophylaxe propagiert, in der das Eiweiss vorverdaut ist. Diese Milch wurde vor etwa 25 Jahren eingeführt und ist immer noch auf dem Markt – doch die Rate an Allergien steigt. Auch Kinder, die solche Milch getrunken haben, können allergisch werden.
Beobachter: Man hat den Eindruck, Vermeiden sei immer schlechter als Konfrontation.
Eigenmann: Man kann nicht generalisieren. Kinder mit hohem Risiko, eine Erdnussallergie zu entwickeln, hat es in einer Studie geschützt, früh Erdnussbestandteile zu sich zu nehmen. Aber hinsichtlich der Hühnerei-Allergie haben Studien zur frühzeitigen Exposition kein klares Ergebnis erbracht. Anscheinend gibt es Unterschiede bei den Lebensmitteln. Jedenfalls sollte man nicht übervorsichtig sein. Wenn Eltern ein neues Lebensmittel und potenzielles Allergen einführen wollen, raten wir: Gebt es zuerst in kleiner Menge – und wenn das Kind es gut verträgt regelmässig, damit sich eine Toleranz ausbilden kann.
Beobachter: Was ist mit Allergien gegen Staub, Milben, Katzenhaare – verringert früher und ausgiebiger Kontakt spätere Allergien?
Eigenmann: Leider nicht. Es gibt wahrscheinlich Kinder, die, weil sie eine Katze zu Hause haben, vor einer Katzenhaar-Allergie geschützt sind. Aber es gibt solche, die können machen, was sie wollen, die werden auf jeden Fall allergisch. Bei den einen wäre das Vermeiden besser, bei den anderen die starke Exposition.
Beobachter: Kann Stress der Mutter in der Schwangerschaft Allergien bewirken?
Eigenmann: Bei Asthmapatienten verschlimmert Stress die Symptomatik – und wenn man den Stress reduziert, bessert sich das Asthma stark. Auch in der Schwangerschaft könnte dies ein Co-Faktor für die Entstehung von Allergien sein. Wahrscheinlich kommen viele Einflüsse zusammen, die die Allergie auslösen.
Beobachter: Was geben Sie Eltern als Ratschlag mit?
Eigenmann: Natürlich leben ohne Angst vor Keimen. Frische und wenig verarbeitete Lebensmittel essen. Zigarettenrauch fördert Allergien – dem sollte man Kinder auf keinen Fall aussetzen. In der Schwangerschaft ist es nicht sinnvoll, auf bestimmte Lebensmittel zu verzichten. Durch solche Einschränkungen können Mutter und Kind ein Nährstoffdefizit bekommen.