Beobachter: Herr Hell, der Herbst steht vor der Tür. Nehmen jetzt die Depressionen wieder zu?
Daniel Hell*: Depressive Verstimmungen haben ihre Ursachen bei weitem nicht nur im Licht- und Wärmemangel. Und im Sommer leiden Betroffene unter Umständen sogar mehr unter ihnen: Alle sind gut gelaunt und aktiv, nur man selbst ist bedrückt und ausgebremst.

Beobachter: Ausgebremst?
Hell: Depressiven fehlt es an Energie und Motivation, sie haben Mühe, sich zu entscheiden und zu planen, sie können sich nicht so gut bewegen. Diese Symptome widerspiegeln ein Bremsmanöver des Körpers. Man bremst nicht bewusst: Es geschieht unwillkürlich. Wir alle kennen das in abgeschwächter Form als Deprimiertheit.

Beobachter: Was passiert bei diesem Bremsmanöver im Körper?
Hell: Das Stresshormon Cortisol wird über längere Zeit ausgeschüttet und nicht abgebaut. Das versetzt das Gefühlszentrum im Gehirn in Alarmzustand und stört den Haushalt von Neurotransmittern wie Serotonin. Dadurch werden die Zentren der Hirnrinde gehemmt, die für das Planen und Entscheiden verantwortlich sind. Das Gleiche gilt für Hirnzentren, die Bewegungen steuern.

Beobachter: Warum kommt es zu diesem Bremsmanöver?
Hell: In manchen Situationen kann man weder zupacken noch fliehen - man weiss keine Lösung, man fühlt sich hilflos. Das Bremsmanöver zwingt einen anzuhalten, bevor man einen falschen Schritt macht.

Beobachter: Können Sie ein Beispiel geben?
Hell: Stellen Sie sich eine Frau vor, die unter der Doppelbelastung Beruf und Familie leidet und in der Ehe unglücklich ist. Wie kann sie ihre Lage verändern? Sie weiss es nicht. Soll sie Mann und Kinder verlassen? Was dann? Das Bremsmanöver verhindert eine Kurzschlusshandlung und macht sie zugleich darauf aufmerksam, dass es so nicht weitergeht.

Beobachter: Aber ewig kann sie doch auch nicht stehen bleiben.
Hell: Sinn macht die Reaktion nur kurzfristig. Zusätzliche Probleme entstehen, wenn die Frau erfolglos gegen das Bremsmanöver ankämpft - wenn sie mit sich hadert und sich etwa Vorwürfe macht, weil sie nicht mehr «funktioniert». Damit stresst sie sich noch mehr - das hält den Cortisolspiegel hoch und hemmt die höheren Hirnzentren noch stärker. So wird aus einer Deprimiertheit eine Depression, und diese kann immer schwerer werden, bis schliesslich gar nichts mehr geht.

Beobachter: Die Frau muss sich also ihrem Tief hingeben, damit sie nicht noch tiefer rutscht?
Hell: Nicht unbedingt sich hingeben, aber sich eingestehen, dass sie ausgebremst ist und kürzer treten muss. Das ist oft der erste Schritt zur Besserung.

Beobachter: Was aber, wenn sie sich das nicht leisten kann?
Hell: Das vergrössert die Herausforderung. Vielleicht hindern sie aber nicht nur äussere Umstände, sondern auch eigene Ansprüche. Menschen mit hohen Selbsterwartungen oder dem Willen, alles im Griff zu haben, akzeptieren oft schlechter, dass sie ausgebremst sind.

Beobachter: Dazu kommt, dass heute in der Gesellschaft Schnelligkeit, Aktivität und Flexibilität grossgeschrieben werden.
Hell: Ja, früher galten Beständigkeit und Routine mehr. Da konnte man als depressiv verstimmter Mensch seinen Alltag besser bewältigen. Heute kämpft man eher gegen das Ausgebremstsein an - oder man will die Symptome nicht wahrhaben.

Beobachter: Wie verdrängt man sie?
Hell: Zum Beispiel mit Zigaretten und Schokolade - das sind leichte Antidepressiva. Oder mit Alkohol und anderen Drogen. Oder man überspielt sie mit Wut. Männer verdrängen eher, Frauen fühlen sich schneller verantwortlich und hadern mit sich.

Beobachter: Wenn die erwähnte Frau sich ihr -Ausgebremstsein zugesteht — wie weiter?
Hell: Besonders günstig ist, wenn sie darin einen Hinweis sieht, etwas zu verändern, was ursächlich zur depressiven Verstimmung beigetragen hat. Manchmal stecken Erkrankungen dahinter, meist aber sind es Belastungen. Etwa durch anhaltende Konflikte - mit dem Partner, bei der Arbeit, mit sich selbst. Am häufigsten aber liegt der Kern der Belastung in einem nicht verarbeiteten Verlust.

Beobachter: Was könnte die Frau denn verloren haben?
Hell: Ihr Idealbild vom Ehemann. Ihre Vorstellung von sich als Ehefrau und Mutter. Ihre Eigenständigkeit. Die Kontrolle über die Situation. Andere verlieren den Partner, die Stelle, die Gesundheit, die Jugend, Werte, Illusionen, Lebensziele…

Beobachter: Oft ist es sehr schwer zu sehen, was man verloren hat.
Hell: Sagen Sie lieber, man sieht weg, weil der Verlust zu schmerzhaft oder beschämend scheint. Weil man grosse Verlustangst hat. Oder weil man das Gefühl der Traurigkeit nicht zulässt. Doch das Verlorene muss betrauert und verabschiedet werden. Denn wenn man an dem festhält, was war oder sein sollte, wird diese Vorstellung erneut von der Wirklichkeit enttäuscht. Das ist eine schmerzvolle, belastende ausweglose - eben: depressionsfördernde - Situation.

Beobachter: Trauerarbeit schützt also vor der Depression?
Hell: Ja, wobei im Trauerprozess oft Deprimiertheit mitschwingt. Auch diese kann Sinn machen, denn sie zwingt einen dazu, sich Zeit zu nehmen und sich ganz langsam mit dem Verlust zu konfrontieren. So gelingt es irgendwann, ihn zu akzeptieren, das Verlorene loszulassen und wieder in die Zukunft zu blicken.


* Daniel Hell, 62, ist medizinischer Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Depressive Erkrankungen bilden einen Schwerpunkt seiner Tätigkeit.


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So reagieren Sie richtig

  • Verleugnen Sie Ihr Ausgebremstsein nicht. Sehen Sie es als Hinweis dafür, kürzer zu treten. Wenn die Verstimmung immer stärker wird, ist eine Therapie angebracht.
  • Überfordern Sie sich nicht. Machen Sie kleine Schritte. Packen Sie nichts Neues an.
  • Setzen Sie auf Bewährtes, Vertrautes, auf leichte Routinearbeiten, die Ihnen Erfolgserlebnisse geben.
  • Halten Sie einen regelmässigen Lebensrhythmus ein, essen Sie ausgewogen, fordern Sie Ihren
    Körper täglich mit Spaziergängen oder leichten Übungen.
  • Gehen Sie über die Bücher: Welche Haltungen und Konflikte belasten Sie? Wovon müssen Sie sich verabschieden? Tagebuchschreiben, Gespräche und Therapien helfen bei Selbstbesinnung, Trauerarbeit und weiterer Lebensplanung.
  • Gehen Sie zum Arzt, wenn Sie seit längerem oder immer wieder unter depressiven Verstimmungen leiden; er kann organische Ursache - ausschliessen und Sie bei Bedarf behandeln.




Buchtipps

Daniel Hell: «Welchen Sinn macht Depression?»; Rowohlt-Verlag, überarbeitete Neuausgabe, 2006, 304 Seiten, CHF 16.50

Pascale Gmür, Helga Kessler:«Wege aus der Depression. So finden Betroffene und ihre Angehörigen Hilfe» Das Buch beschreibt die Unterschiede zwischen Traurigkeit und Depression und zeigt, wo es Hilfe gibt. 2. Auflage, 2005, 208 Seiten, 34 CHF