Ernährung: Fette Zuwachsrate bei dicken Kindern
Die Schweiz ist nicht mehr weit von amerikanischen Verhältnissen entfernt: Gemäss einer neuen Studie steigt auch bei uns die Zahl der Kids, die zu dick sind, dramatisch an. Die Folgen wiegen schwer – nicht nur für die Betroffenen.
Veröffentlicht am 23. Oktober 2001 - 00:00 Uhr
Sie heissen Lars, Sarah, Julia und Marco. Sie sind mitunter frech, oft fröhlich, aber auch nachdenklich, spielen Fangis, gehen gern in die Badi und stehen auf NSync, Fettes Brot und Ramstein. Sie haben hübsche Gesichter, Liebeskummer und manchmal einfach mehr «Gluscht auf Schoggi» als andere Kinder.
Die vier 11- bis 14-Jährigen haben diesen Sommer mit anderen Kindern zwei Ferienwochen im Lager des Club Minu verbracht. Im Club Minu können dicke Kinder während neun Monaten gemeinsam mit anderen Übergewichtigen und ihren Eltern lernen, ihr Gewicht in den Griff zu bekommen. Diese Kinder sind anderen dicken Kindern einen Schritt voraus, denn sie haben ihr Problem nicht nur erkannt sie unternehmen auch etwas dagegen.
15 Prozent der Kids sind fettleibig
Und dick sind sie natürlich nicht nur, weil sie hemmungslos Schokolade in sich hineinstopfen. Das Problem ist viel komplexer und wird auch immer gravierender. Eine neue Studie des Labors für Humanernährung der ETH Zürich zeigt: Die Zahl der Kinder, die zu dick sind, steigt dramatisch. Je nach Berechnungsart ist bereits rund ein Drittel der Sechs- bis Zwölfjährigen übergewichtig, etwa 15 Prozent sind fettleibig. Das sind dreimal mehr als in den sechziger Jahren womit die Schweiz Kopf an Kopf mit den USA liegt. «Da kommt noch ein Problem auf uns zu», sagt Robert Sempach, Ernährungspsychologe und Leiter des Club Minu.
Die Ursachen für diese drastische Zunahme sind vielfältig. Marianne Botta-Diener, Lebensmittelingenieurin in Bern, hat schon viele Kinder und ihre Eltern beraten: «Zwar spielen die Veranlagung und die
Gene eine gewisse Rolle, wenn Kinder zu dick sind. Entscheidend ist aber, dass die traditionellen Essgewohnheiten und Essrituale verschwinden.»
Die soziale Funktion des Essens geht verloren; es verkommt zur reinen Nahrungsaufnahme und bietet immer weniger den Rahmen für Gespräche über Sorgen und Freuden oder einfach das Zusammensein der Familie. «Eine gemeinsame Mahlzeit pro Tag, an der alle Familienmitglieder teilnehmen, ist eine wichtige Voraussetzung für einen besseren und damit gesünderen Zugang zu Ernährung», sagt Sempach. Oft ersetzt das Fernsehen die Unterhaltung am Tisch. «Die Kinder sitzen vor dem Fernseher und bedienen sich aus dem Kühlschrank. So haben sie weniger Kontrolle darüber, was und vor allem wie viel sie essen.» Doch heisst das nun: Mütter oder Väter , zurück an den Herd? «Nein, natürlich nicht», sagt Botta-Diener. «Ein Kind kann auch bei einer Tagesmutter oder im Kinderhort gesund essen.»
Sich einfach mehr zu bewegen und damit Kalorien zu verbrennen gestaltet sich vor allem für Stadtkinder schwierig: Oft haben sie keinen Spielplatz in der Nähe, und in die Schule werden sie vielfach gefahren, weil der Weg zu gefährlich ist. Und wer
bereits dick ist, bewegt sich sowieso nicht mehr so leicht. Dabei ist genug Bewegung das A und O für ein gutes Körpergefühl. Das ist bei dicken Kindern und Jugendlichen oft gestört. Sie sind konfrontiert mit Bildern aus Werbung und Musikvideos, mit «gutem» Rat von allen Seiten, Hänseleien der Kollegen und dem eigenen verzerrten Spiegelbild.
Wonach sollen sie sich richten? Gemäss Robert Sempach müssen die Kinder selber herausfinden, was ihr eigenes «Wohlfühlgewicht» ist. Kalorienzählen bringe nichts; viel wichtiger sei es, dass die Kinder regelmässig und abwechslungsreich essen. «Wenn die Menge vorher abgemacht wird, liegen auch Chips drin», sagt Sempach.
Ohnehin wissen die Leute generell zu wenig über die Ernährung und deren Zubereitung. Das fängt schon beim Frühstück an. Ein reichhaltiger Zmorge würde den Start in den Tag erleichtern. Oft werden die Kinder aber mit leerem Magen in die Schule geschickt; unterwegs kaufen sie sich dann einen Schokoriegel und eine Cola.
Isst die Familie überhaupt gemeinsam zu Abend, kommt vermehrt Fast Food auf den Tisch. Für viele Kinder besteht ein Poulet aus zwei tiefgefrorenen Beinen, und Fisch kennen sie nur noch in Form panierter Stäbchen. «Wir haben den sinnlichen Zugang zu Nahrung und ihrer Zubereitung verloren. Statt in den Grossverteiler sollten die Eltern mit den Kindern auf den Markt gehen und sich dort von Düften und Farben inspirieren lassen», meint Ernährungsexpertin Marianne Botta-Diener.
Gefangen in einem Teufelskreis
Mindestens so komplex wie die Ursachen sind die gesundheitlichen Probleme, mit denen dicke Kinder konfrontiert sind ihr Leben lang. Sie kämpfen mit ihrem Gewicht, schwitzen mehr, haben X-Beine und Gelenkschmerzen. Ausserdem ist ihr Herz-Kreislauf-System gestört, sie haben ein erhöhtes Diabetes- und Krebsrisiko und leiden schon früh unter Arteriosklerose.
Die dicken Kleinen geraten regelrecht in einen Teufelskreis, weil auch ihre Seele stark in Mitleidenschaft gezogen wird. In der Schule werden sie als Letzte in die Fussballmannschaft gewählt, sie sind modisch nicht à jour, finden keinen Freund, keine Freundin.
«Diese Kinder werden oft als dumm eingeschätzt, auch als etwas schlampig und ungepflegt. Es wird ihnen unterstellt, sie seien dick, weil sie zu wenig Selbstdisziplin hätten», sagt Botta-Diener. Das erschwert ihnen den Kontakt zu andern Kindern, was sie zusätzlich isoliert und wieder vor die Glotze treibt wo sie sich mit Süssigkeiten oder Chips trösten. Botta-Diener hat schon oft 16-Jährige erlebt, die den gewünschten Beruf nicht erlernen konnten: «Welches dicke Mädchen bekommt schon eine Lehrstelle als Kosmetikerin, auch wenn es noch so motiviert und begabt ist?»
Seelisches Leiden kann aber auch Ursache für zu viele Pfunde sein. «Wir dringen ins Innerste einer Familie ein. Bei manchen ist das ein schmerzhafter Prozess», sagt
Robert Sempach. So zum Beispiel beim
13-jährigen Lars: Er hat in den letzten drei Monaten schon zwölf Kilo abgenommen, wiegt aber immer noch 108 Kilo. Kürzlich hat er verkündet, er wolle nicht mehr abnehmen, er brauche dieses Polster. «Aufgrund einer Zeichnung haben wir herausgefunden, dass sein Vater ihn schlägt. Und das müssen wir nun gegenüber den Eltern ansprechen.»
Prävention an Schulen gefordert
Aber nicht nur die Kinder leiden unter den Auswirkungen, auch das Gesundheitswesen wird immer mehr strapaziert. Eine Studie des Instituts für Sozial- und Präventivmedizin der Uni Zürich bezifferte die Kosten für die Behandlung ernährungsbedingter Krankheiten bereits 1988 auf 3,1 Milliarden Franken. Dabei sei der Anteil der Kosten, die durch Fettleibigkeit verursacht würden, «von grosser Bedeutung». Neue Zahlen liegen zwar nicht vor; es kann aber davon ausgegangen werden, dass die Kosten heute um einiges höher sind.
Es müssen daher dringend Massnahmen eingeleitet werden. Am besten sind Kinder in der Schule erreichbar. Eine Arbeitsgruppe des Bundesamts für Gesundheit hat einen Bericht verfasst, der die Situation der Schulkinder und Ernährung zusammenfasst. Darin wird verlangt, dass der Ernährung in Schule und Unterricht eine zentrale Bedeutung zukommt. Der Bericht basiert auf einem Postulat an den Bundesrat aus dem Jahr 1994 die Forderungen sind bei weitem noch nicht umgesetzt.
«In der Tat, die Sache wurde nicht sehr geschickt aufgegleist», sagt Beat Hess vom Bundesamt für Gesundheit. Die Schulen seien in den letzten Jahren geradezu bombardiert worden mit Forderungen im Gesundheitsbereich.
Fabiola Curschellas vom Schweizer Lehrerinnen- und Lehrerverband ist denn auch nicht begeistert von der Idee, die Gesundheitsförderung fix in den Stundenplan zu integrieren: «Sinnvoller ist es, je nach Situation darauf zu reagieren. Zum Beispiel nehmen die Kinder immer öfter sackweise Chips mit auf die Schulreise. Hier können wir den Kindern Tipps geben.» Es komme auch vor, dass dicke Kinder auf dem Schulhausplatz gehänselt werden. «Dann nehmen wir das Problem auf.»
Davon hält Marianne Botta-Diener
allerdings nicht viel: «Da sind Fachleute
gefragt.» Gerade diese aber seien an den Schulen Mangelware. «Dabei wäre die Prävention bedeutend billiger als die Folgekosten, die das Problem der dicken Kinder verursacht.»