Zu viel Farbe bekannt
Erröten ist eine ganz natürliche Reaktion. Doch wem dies sehr oft passiert, der zieht sich zurück. Es gäbe allerdings wesentlich bessere Lösungen.
Veröffentlicht am 27. März 2006 - 15:20 Uhr
«Früher hatte ich einen Kollegen: Immer wenn der furzte, wurde er rot», sagt Jonathan. Jessica meint: «Rot werden macht eine peinliche Situation noch peinlicher.» - «Wer rot wird, schaut weder nach rechts noch nach links», sagt Cristian.
Die Schüler und Schülerinnen der Sekundarklasse 3b im Wettinger Schulhaus Margelächer sind in der Diskussion übers Rotwerden nicht verlegen. Rebekka errötet, wenn sie im Turnen den Ball nicht trifft; Safa, wenn sie «länger als andere» lachen muss. Gianluca: «In Momenten, in denen man rot wird, kann man einfach nicht cool bleiben.» Einig sind sich alle: Das Erröten ist so alt wie die Menschheit. Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie, bezeichnete es 1873 als «die eigentümlichste und menschlichste aller Ausdrucksformen».
Wem das Blut durch die Gesichtshaut schimmert, empfindet in der Regel ein Ereignis als gefährlich, peinlich oder unangenehm. Die Gesichtstemperatur steigt zirka um ein Grad; nach 15 Sekunden wird das Maximum erreicht, nach 30 Sekunden ist der normale Zustand wiederhergestellt. Oft wird das Erröten als ein Zeichen der Scham oder des Ertapptwerdens gedeutet. Die Reaktion ist durch den Willen nicht beeinflussbar.
Häufiges Erröten kann zur Belastung werden - auch wenn die betroffene Person oft die einzige bleibt, die es bemerkt. Der Krankheitsname «Erythrophobie» bezeichnet denn auch nicht das Erröten selbst, sondern die übersteigerte Angst davor. Je mehr diese Menschen sich vor dem Erröten fürchten, desto häufiger wird ihnen dies geschehen. Sie meiden Situationen, in denen diese Angst auftauchen könnte. Sie lassen sich einen Vollbart wachsen, schminken sich überstark, verstecken sich hinter einer grossen Sonnenbrille - und vor allem ziehen sie sich immer mehr zurück.
Nach der Pubertät wirds meist besser
«Die Grenzen zwischen ‹normalem› und ‹krankhaftem› Erröten sind fliessend», sagt Joe Hättenschwiler, Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. «Betroffen sind vor allem hell- und dünnhäutige Personen mit entsprechender Veranlagung und oft auch erhöhter Empfindsamkeit.» Bei den meisten schwäche sich das Phänomen nach der Pubertät ab, sagt der Fachmann: «Wenn jemand aber deswegen regelmässig gehänselt wird und er nicht über ein stabiles Selbstbewusstsein verfügt, kann sich die Reaktion verselbstständigen. Der Leidensdruck kann enorm werden.»
Verdrängen ist keine Lösung
Erröten als alleiniges Problem taucht in der Psychiatrie selten auf. In der Regel ist es verbunden mit dem Krankheitsbild «Soziale Angststörung». Sie ist in den USA nach der Alkoholabhängigkeit und der Depression die dritthäufigste psychische Störung. Betroffene leiden in Gesellschaft unter dem Gefühl, dass die Anwesenden sie abwertend mustern, ja dass sie schlecht über sie denken. Versuchen sie, diese Situationen zu vermeiden, kann sich die Furcht immer mehr verselbstständigen. «Dann bleibt die Angst im Moment zwar aus, aber dadurch wird die Chance vertan zu überprüfen, ob für dieses Gefühl der Angst immer noch ein realer Anlass besteht», sagt Oberarzt Hättenschwiler.
Eine Therapie besteht vor allem darin, Betroffene über das Wesen der Angst zu informieren und sie dazu zu ermutigen, die furchtauslösenden Situationen nicht zu meiden, sondern sie zu suchen. Joe Hättenschwiler: «Dabei ist die Entdeckung entscheidend, dass die Umwelt oft gar nicht so schlecht über einen denkt, wie man immer meinte.» Nach und nach könne es auch gelingen, beim Erröten nicht «auf Alarm zu schalten», sondern die Reaktion zu akzeptieren und sie nicht um jeden Preis verstecken zu wollen.
Buchtipps
- Carsten Dieme: «Angst vorm Erröten?»; Stillwasser, 2004, 162 Seiten, Fr. 29.30
- Joe Hättenschwiler und Paul Höck: «Wenn Angst zur Krankheit wird»; Gratisbroschüre, zu bestellen bei: Angst- und Panikhilfe Schweiz (APhS), Tulpenweg 2, 3315 Bätterkinden - oder im Internet unter www.aphs.ch