Das Problem:
Koni Rohners Erziehungstipps sind zu weich. Mein Vater hat mir oft den Hintern versohlt, und ich bekam hin und wieder auch den Stecken des Lehrers zu spüren. Wir wurden früher härter angefasst, aber es hat uns nicht geschadet. Im Gegenteil: Wir wussten, was sich gehört, und konnten so unseren Weg im Leben gehen.

Karl G.

Koni Rohner, Psychologe FSP:
Die Ansicht von Karl G. ist verständlich, auch wenn ich sie nicht teile. Tatsächlich scheint nicht nur Gewalt unter Kindern zuzunehmen, sondern auch Respektlosigkeit und Aggressivität gegenüber Erziehern (siehe Beobachter Nr. 16). Oft kommt es lange nicht zum Konflikt, weil alles toleriert wird. Irgendwann ist das Mass allerdings voll, und die Eltern reagieren äusserst gereizt und autoritär.

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Dieses Verhalten spiegelt das Dilemma, in dem viele moderne Erzieher stecken: Grundsätzlich möchte man nicht mehr so autoritär sein wie die eigenen Eltern oder Lehrer; man möchte den Kindern möglichst viel Freiheit gewähren, sie nicht unterdrücken und ihre Entfaltung fördern. Wenn dann aber alles aus den Fugen gerät, fallen wir genau in jene Verhaltensmuster zurück, die wir vermeiden wollten. Es braucht also eine neue Strategie – kein Laisser-faire, aber auch keinen willkürlichen Machtgebrauch.

Die Pädagogin Rebeca Wild hat in einem sehr lesenswerten Buch einen neuen Weg aufgezeigt (siehe Buchtipp). Sie unterscheidet, wo Grenzen nötig sind, wie man sie sinnvollerweise setzt und wo Freiheit ihren Platz haben muss. Sie glaubt an eine bessere, liebevollere Gesellschaft, als wir sie heute haben, predigt aber nicht das Chaos, sondern beschreibt, wie man Freiheit und Ordnung kombinieren kann.

Grenzen respektieren lernen
Im Unterschied zu allen anderen Lebewesen ist der Mensch zur Freiheit geboren. Sein in der Evolution neu erworbenes Grosshirn ermöglicht es ihm, über angeborene Verhaltensprogramme hinauszugehen und sein Leben selbst und unabhängig zu gestalten. Anderseits kommt er derart hilflos auf die Welt, dass es ebenso zu seiner Existenz gehört, immer Teil eines sozialen Umfelds zu sein. Menschen sind zwar frei, aber weil sie in einer differenzierten Kultur leben, sind sie immer auch an gesellschaftliche Regeln gebunden.

Grenzen gehören zu jedem Organismus. Die einzelnen Zellen eines Lebewesens müssen voneinander abgegrenzt sein, um ihre verschiedenen Funktionen zu erfüllen. Da Grenzen etwas derart Natürliches sind, braucht man keine künstlichen zu erfinden, um die Entwicklung eines Kindes zu fördern. Man muss aber die Grenzen, die sinnvoll sind, klar mitteilen und konsequent auf ihrer Einhaltung bestehen. Grenzen sind abhängig vom Alter des Kindes, vom Ort und von der Zeit. So ist es zum Beispiel in Ordnung, im Sandkasten zu spielen, aber es ist verboten, dasselbe in der Stube mit der Blumentopferde zu machen. Für ein vierjähriges Kind ist ein Taschenmesser gefährlich, ein zwölfjähriges kann man durchaus damit hantieren lassen.

Gute Erzieher scheuen sich nicht, bei der ersten Grenzüberschreitung zu reagieren. Es ist nicht nötig, lange Diskussionen über den Sinn von Grenzen zu führen, obwohl man sie natürlich begründen können müsste. Man soll dagegen dem Kind seine Wut und seine Frustration gestatten, wenn es an eine solche Grenze stösst. Wenn es nämlich diese Gefühle äussern darf, wird es in der Regel kreativ andere Wege finden, wie sich seine Bedürfnisse am richtigen Ort zur richtigen Zeit doch noch erfüllen lassen.

Mit gutem Beispiel vorangehen
Grenzen sind leichter zu ertragen, wenn auf der anderen Seite auch Freiräume bestehen. Leider weist unsere moderne Gesellschaft da grosse Mängel auf: Weder die Zeit noch geeignete Orte noch anregende Materialien stehen den Kindern in genügendem Mass zur Verfügung. Die Folge: Immer öfter besteht das Kinderleben aus Schule und durchorganisierten Freizeitaktivitäten in Klubs und Kursen.

Kinder sollen nicht kuschen müssen, aber sie sollen höflich, einfühlend und rücksichtsvoll sein. Der beste Weg, sie das zu lehren, ist, ihnen ein Vorbild zu sein. Ausserdem brauchen Kinder Interesse und Aufmerksamkeit ihrer Erziehungspersonen. Zu viele Eltern sind gestresst, abgelenkt oder mit andern Aufgaben belastet, so dass sie dieses Gefühl von Heimat und Geborgenheit nicht vermitteln können. Es kommt weniger auf die Quantität als auf die Qualität an. Wenn es uns gelingt, immer wieder Inseln der Zuwendung und des ruhigen Beisammenseins zu schaffen, werden unsere Kinder nicht zu rücksichtslosen Despoten, sondern werden uns ebenso viel Respekt entgegenbringen wie wir ihnen.