Gehemmtheit: «Ich, 30, hatte noch nie Sex»
Obwohl ich bald 30 bin und mich vom weiblichen Geschlecht angezogen fühle, ist es mir noch nie gelungen, einer Frau wirklich nahe zu kommen und mit ihr auch Sex zu haben. Bin ich gehemmt oder einfach nur zu bequem? Martin F.
Veröffentlicht am 5. August 2003 - 00:00 Uhr
Natürlich braucht es etwas Mut und Initiative, um eine Frau zu erobern: Die Anziehung ist nicht immer gegenseitig, und manche Frauen wollen umworben werden. Was auch bedeutet, dass man lernen muss, Zurückweisungen zu ertragen.
Wenn es aber bis 30 nie geklappt hat, würde auch ich auf eine neurotische Gehemmtheit schliessen. Die Tiefenpsychologie geht von einer dreigeteilten Seele aus: Im «Es» drängen die Triebe nach Befriedigung. Im «Über-Ich» stecken Ideale, Regeln und Verbote. Viele davon sind sinnvoll und nötig, etwa die Hemmung zu töten. Andere schränken das Leben unnötig ein, zum Beispiel Ihre Hemmung, ein normales, altersgemässes Liebesleben zu führen. Der dritte Teil der Seele, das «Ich», hat die Aufgabe, zwischen dem «Es», dem «Über-Ich» und der Umwelt zu vermitteln und ein Gleichgewicht herzustellen. Dieses «Ich» entspricht in etwa unserem Bewusstsein.
Ihre Aufgabe ist es also, Ihre erotischen und sexuellen Wünsche kennen zu lernen und diese zu akzeptieren. Dabei könnten Ihnen zum Beispiel eine Männergruppe oder Gespräche mit Freunden helfen. Wenn Ihnen dieser Schritt gelingt, werden Sie auch die Kraft finden, sich einer Frau zu nähern, Ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit, Erotik und Sexualität zu äussern und Ihre Sehnsucht zu stillen.
Der Tiefenpsychologe Harald Schultz-Hencke erklärt in seinem Buch «Der gehemmte Mensch», dass Hemmungen im frühen Kindesalter entstehen, wenn Kinder in ihrem natürlichen Entfaltungsdrang behindert werden. Er unterscheidet drei Bereiche: Erstens möchte das Kind Dinge oder Menschen haben und behalten. Zweitens hat es ein Geltungsbedürfnis, möchte jemand sein, respektiert werden und auch einmal Nein sagen können. Und drittens erfahren bereits auch Kinder Sexualität, die sie ihrem jeweiligen Entwicklungsstand entsprechend neugierig erkunden wollen.
Sexfantasien als Folge der Verdrängung
Wenn Eltern diesem natürlichen Streben mit Ignoranz, Unverständnis oder gar Strafen begegnen, wird aus dem allzu braven Kind ein gehemmter Erwachsener: jemand, der sexuell blockiert, kraftlos, übermässig nachgiebig und unsicher durchs Leben schleicht.
Die Kraft seiner Wünsche ist längstens unter einem schweren Deckel verschwunden oder er hat sich einfach arrangiert.
Die verdrängten Wünsche bleiben allerdings im Unbewussten haften. Sie produzieren in der Fantasie riesige Ansprüche, denen die Realität nie genügen kann. Oft wartet deshalb ein sexuell gehemmter Mensch auf eine erotische Traumbegegnung voller Romantik, Leidenschaft und ohne Konflikte, aber er tut nichts dafür. Falls doch eine Beziehung zustande kommt, geht sie häufig und rasch an seiner Unersättlichkeit zugrunde.
Die Zurückhaltung gehemmter Menschen führt auch dazu, dass sie es als Partner oder Partnerin schwer haben: Weil ein Teil ihrer Lebendigkeit unterdrückt wird, sind sie nicht fassbar und zeigen kein Profil, auf das sich andere in ihren Gefühlen beziehen können. Gehemmtheit ist jedoch kein unabänderliches Schicksal. Hemmungen lösen sich allmählich auf, wenn man seine Gehemmtheit erkennt und mutig immer wieder neue Schritte wagt, um sich zu entfalten.