Jahreswechsel: Freundlicher sein als guter Vorsatz für 2002
Jeder vierte Schweizer leidet an Depressionen. Die Fälle haben sich im letzten Jahr verdoppelt. Ein Mittel dagegen: Versuchen wir, in unserem kleinen Umfeld etwas freundlicher miteinander zu sein.
Veröffentlicht am 18. Dezember 2001 - 00:00 Uhr
Das Problem
Warum habe ich seit drei Jahren immer wieder Depressionen? Wie können sie aus heiterem Himmel kommen? Für mich ist diese Krankheit ein Phänomen, mit dem ich nicht umgehen kann, das ich nicht verstehen, geschweige denn akzeptieren kann. Ich habe zwar Kolleginnen, doch auch mit ihnen fühle ich mich immer als Aussenseiterin. Meine Generation will weder über Gott und die Welt noch über den Tod reden. Sie erzählen nur vom Fernsehen, und da kann ich nicht mitreden.
Sophie G.
Koni Rohner, Psychologe FSP
Nicht zufällig habe ich den Brief von Sophie G. für diese Beobachter-Ausgabe gewählt. Der Jahreswechsel ist für viele Menschen eine Gelegenheit, zurückzuschauen und wer auf den Herbst 2001 blickt, kommt am Thema Depression nicht vorbei. Eine Untersuchung am Psychologischen Institut der Universität Basel hat gezeigt, dass jeder vierte Schweizer seit dem 11. September unter Depressionen leidet. Demnach haben sich leichte Fälle innerhalb eines Jahres von acht auf 16 Prozent verdoppelt, und der Anteil schwerer Depressionen ist von gut sechs auf knapp zehn Prozent gestiegen.
In der Psychopathologie (Lehre von den psychischen Krankheiten) unterscheidet man zwischen «reaktiven» und «endogenen» Depressionen. Die zweite Gruppe würde besser «kryptogen» (krypto = verborgen) heissen, weil man für diese Störungen «aus heiterem Himmel» wie Sophie G. schreibt bisher keine Ursache gefunden hat. Die reaktiven Depressionen hingegen sind eine Reaktion auf ein schmerzhaftes Ereignis. Statt dass ein ausdrucksvoller Trauerprozess mit Tränen, Angst und Wut gelebt werden kann, tritt eine Blockade der Gefühle ein.
Die Symptome beider Depressionsformen sind im schwersten Fall nicht Traurigkeit, sondern Gefühllosigkeit, eine Art Tod bei lebendigem Leib, ein gänzlicher Mangel an Vitalität und Lebensfreude. Bei den endogenen Depressionen kann ein Klinikaufenthalt hilfreich sein, weil man da in einem geschützten Rahmen von den Verpflichtungen und Belastungen des Alltags befreit ist. Viele Patienten erleben eine medikamentöse Behandlung als Erleichterung.
Bei den reaktiven Depressionen zeigt eine Psychotherapie gute Erfolge. Mit einer verständnisvollen Begleitung begibt man sich auf die Suche nach den Ursachen für die Depression und kann mit zunehmendem Vertrauen die zum auslösenden Ereignis gehörenden Gefühle immer besser wahrnehmen und auch ausdrücken. Wenn die Trauerarbeit erledigt ist, kann der Phönix aus der Asche steigen. Das heisst: Man wird wieder optimistisch und verspürt neue Lebenskraft und Zukunftsfreude.
Wir alle haben in den vergangenen Monaten schreckliche «Bilder des Niedergangs» miterlebt. Das Zusammenbrechen des World Trade Centers in New York und das Swissair-Grounding lassen sich als Symbole dafür deuten, dass es so nicht weitergehen konnte, dass ein Zuviel bestand, das korrigiert wurde. Solche Urbilder, die auch in Märchen und Mythen vorkommen, nannte C. G. Jung «Archetypen». Die Seele kann sich ihrer Wirkung nicht entziehen, auch wenn dies der Verstand nicht wahrhaben will.
Da jede Krise eine Chance ist, steckt in diesen Ereignissen vielleicht auch eine Lektion. Zum Beispiel die, dass Bäume nicht in den Himmel wachsen. Oder die, dass es einseitig ist, immer bloss nach Grösse, Gewinn, mehr Effizienz und Schnelligkeit zu streben.
Mehr Solidarität statt Konkurrenz
Der Popsänger Sting hat am Erinnerungskonzert nach dem Attentat in New York sein Lied «Fragile» (= zerbrechlich) gesungen. Vielleicht gehts jetzt darum, dass wir unsere Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit erkennen und ein wenig bescheidener werden. Depression bedeutet Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit. Wir können zwar wenig Einfluss auf die Weltgeschichte ausüben, aber das ist kein Grund, die Hoffnung auf eine bessere Welt zu verlieren.
Wir leben in einer äusserst unsicheren Zeit. Der Wiener Psychologe Alfred Adler hat entdeckt, dass uns nur die Verbundenheit mit anderen ein wirkliches Gefühl von Sicherheit geben kann, Sieg, Macht und Triumph über andere dagegen nicht.
Ich schlage deshalb einen sehr bescheidenen guten Vorsatz für 2002 vor: Versuchen wir doch, in unserem kleinen Umfeld etwas freundlicher miteinander zu sein. Solidarität statt Konkurrenz! Versuchen wir, etwas sorgfältiger mit unseren Mitmenschen umzugehen nicht nur in der Familie, sondern auch am Arbeitsplatz. Sogar beim Bäcker, am Kiosk oder an der Warenhauskasse freuen sich die Angestellten über ein paar aufgestellte Worte. In den meisten Fällen kommen dieselben Schwingungen zurück.