Beobachter: Sind Eltern heute überängstlich?
Georg Staubli: So einfach ist das nicht. Sie sind zu Recht besorgt. Wenn ein Kind 40 Grad Fieber hat, stellt sich vielleicht später heraus, dass es «nur» eine Grippe war, die man daheim hätte aussitzen können. Es hätte aber genauso gut eine Lungenentzündung oder ein bakterieller Infekt sein können.

Beobachter: Sind denn Kinder heute öfter krank?
Staubli: Seit mehr als zehn Jahren haben wir auf dem Kinder-Notfall jedes Jahr 1000 oder 2000 Patienten mehr. Letztes Jahr stieg die Zahl sogar um 3000. Im Kanton Zürich gibt es eben immer mehr Kinder – und 2016 war die Grippesaison besonders ausgeprägt.

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Beobachter: Gibt es noch andere Gründe?
Staubli: Den Leistungsdruck auf berufstätige Eltern etwa. Sie wollen ihr Kind möglichst schnell gesund haben, für die Krippe, damit sie wieder arbeiten gehen können. Vor allem Alleinerziehende und Wenigverdiener spüren da den Druck der Arbeitgeber. Zudem sorgt die Informationsflut für Unsicherheit. Wenn eine Zeitung wieder mal über ein Kind mit Hirnhautentzündung berichtet, haben wir am nächsten Tag zehn Prozent mehr Fälle.

Beobachter: Warum bringen Eltern fiebrige Kinder nicht zum Kinderarzt?
Staubli: Die Wartezimmer der Kinderärzte sind genauso voll. Wir hören oft, dass Eltern keinen Termin mehr erhalten haben. Und die Praxen schliessen am Abend, wir nicht. Ab vier oder fünf Uhr nachmittags ist so bei uns am meisten los.

Wenn eine Zeitung wieder mal über ein Kind mit Hirnhautentzündung berichtet, haben wir am nächsten Tag zehn Prozent mehr Fälle.

Georg Staubli, Leiter Notfall im Kinderspital Zürich

Beobachter: Wie viele Kinder haben auf dem Notfall nichts zu suchen?
Staubli: Ungefähr 50 Prozent unserer Patienten sind keine medizinischen Notfälle. Oft geht es um virale Infekte, die einfach zu behandeln sind. Ich erinnere mich aber auch an eine Mutter, die ihr Kind wegen einer Zecke vorbeibrachte. Die hatte nicht etwa zugestochen, sondern war einfach auf dem Arm des Kindes herumgekrabbelt. Solche ganz unsinnigen Fälle sind zum Glück selten.

Beobachter: Kommen die echten Notfälle zu kurz?
Staubli: Wir versuchen das zu verhindern. Darum haben wir der Station eine Hausarztpraxis angegliedert, die sich um die weniger dringlichen Fälle kümmert. Priorität haben für uns die 30 Prozent der Kinder, die Sofortmassnahmen benötigen. Hinzu kommen 20 Prozent, die zwar nicht akut Hilfe brauchen, aber bei uns im Notfall gut aufgehoben sind.

Beobachter: Was empfehlen Sie Eltern mit einem kranken Kind als erste Anlaufstelle?
Staubli: Bei Unsicherheit kann zum Beispiel der Freundes- oder Familienkreis helfen. Aber auch Ratgeberwissen, das man sich besser schon aneignet, bevor das Kind krank wird. Viel zu wenig wahrgenommen werden leider die guten Angebote verschiedener Hotlines. Fast alle Krankenkassen bieten Telefonberatung. Auch das Kinderspital hat eine Hotline, um möglichst vielen Kindern das Notfallprozedere zu ersparen.

Beobachter: Kommt es auch vor, dass Eltern zu lange warten, bis sie einen Arzt aufsuchen?
Staubli: Ja. Aber nicht so häufig.

Beobachter: Gibt es eine Faustregel, ab wann das Kind in die Notfallstation gehört?
Staubli: Es wäre heikel zu sagen «drei Tage Fieber, und dann ist ein Kind ein Notfall». Theoretisch kann es schon am Tag eins eine schwere Krankheit sein. Deshalb sind für eine medizinische Einschätzung Angebote wie die Beratungshotlines so wichtig.

Beobachter: Spüren Eltern denn nicht, ob ihr Kind einen Arzt braucht oder nicht?
Staubli: Wenn sie das könnten, bräuchte es viel weniger Ärzte. Aber natürlich kennen Eltern ihre Kinder am besten. Wenn sie sagen, es gehe dem Kind wirklich nicht besonders gut, schauen wir Kinderärzte zweimal hin

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Quelle: Beobachter Edition
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