Krebs: Gentests nicht über alle medizinischen Zweifel erhaben
Viele Familien, in denen Krebs gehäuft auftritt, sind verunsichert und verängstigt. Gentests sollen hier Klarheit schaffen. Doch Kritiker fürchten mehr Schaden als Nutzen: Sie plädieren für ein «Recht auf Nichtwissen».
Veröffentlicht am 18. Juni 2001 - 00:00 Uhr
Karin Marchel ist kerngesund. Aber gleichwohl hat sie Angst, sie könnte an Krebs erkranken oder bereits erkrankt sein. Zwei ihrer Tanten sind an Eierstockkrebs gestorben, die Mutter lebt mit Brustkrebs. Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, fragt sie sich, selber an Krebs zu erkranken? Welche Vorkehrungen kann sie treffen, damit ein solcher Tumor frühzeitig erkannt und erfolgreich behandelt werden kann? Ist auch ihre elfjährige Tochter gefährdet?
Solche und ähnliche Fragen stellen sich meistens Menschen aus Familien, in denen Krebsfälle gehäuft auftreten. Obschon die Krankheit oft heilbar ist und auch wirksame Schmerztherapien zur Anwendung kommen, steht Krebs in vielen Köpfen für langes Leiden und einen qualvollen Tod.
Gendiagnostik-Markt boomt
Laut dem jährlich erhobenen Angstbarometer des GfS-Forschungsinstituts in Zürich hat die «Angst vor unheilbaren Krankheiten wie zum Beispiel Krebs oder Aids» seit Mitte der neunziger Jahre stark zugenommen. Der «Fonds gesundes Österreich» ermittelte, dass sich 60 Prozent der Erwachsenen vor Krebs fürchten. Diese Furcht ist leicht erklärbar: Jeder vierte Todesfall ist in der Schweiz krebsbedingt.
Von 100 Krebserkrankungen werden nach heutigem Wissensstand indes nur fünf bis zehn vererbt. Für Personen wie Karin Marchel gilt dabei die Faustregel: Je weniger Fälle einer Krebsart in einer Verwandtschaftslinie auftreten, je entfernter verwandt die Betroffenen sind und je älter sie an Krebs erkrankten, desto kleiner ist das erblich bedingte Risiko.
Trotzdem entwickelt sich ein lukrativer Markt in diesem Feld: die Gendiagnostik. Die Wissenschaft kennt bisher rund 30 Gene, die das Risiko für eine Krebserkrankung beeinflussen. Mutationen in diesen Genen erhöhen zumeist die Wahrscheinlichkeit, an einer Krebsart zu erkranken. Eher selten dagegen bedeutet eine Veränderung auf einem dieser Gene, dass die Neigung zu Krebs generell zunimmt.
Medizinische Genetiker können rund die Hälfte der 30 «Krebsgene» im Labor untersuchen und feststellen, ob sie genetische Veränderungen aufweisen. Alles, was es dazu braucht, sind einige Milliliter Blut. In der Schweiz kommen solche Gentests im Krebsbereich seit Mitte der neunziger Jahre zum Einsatz; pro Jahr sind es allerdings erst einige Dutzend. Die Kosten für einen ersten Test können bis zu 4000 Franken betragen. In gewissen Fällen werden diese von der Krankenkasse übernommen.
So euphorisch die Befürworter von Gentests sind, so mangelhaft ist die Situation in Sachen genetischer Beratung. Es gibt in der Schweiz erst acht Beratungsstellen, die Universitäts- oder Regionalspitälern angegliedert sind und nach Meinung von kritischen Fachleuten sehr «testfreundlich» sind: «Wir brauchen mehr Anlaufstellen für Betroffene, die auch die psychosoziale Dimension berücksichtigen», fordert Suzanne Braga, medizinische Genetikerin und Familientherapeutin.
Viele Genetiker seien sich der Tragweite eines Tests für die Betroffenen kaum bewusst. Anderseits seien auch Hausärzte und sogar Krebsspezialisten mit Patientenfragen zu einer möglichen Vererbung von Krebs oft überfordert; ihnen fehle das genetische Fachwissen. «Wer heute kompetent Auskunft geben will», so Suzanne Braga, «muss sich fast täglich informieren.»
Leben mit der Angst im Nacken
Während die Gentest-Befürworter für ein «Recht auf Wissen» der Betroffenen plädieren, treten die Kritiker für ein «Recht auf Nichtwissen» ein. «Ein positiver Gentest kann die Betroffenen stark verängstigen», warnt etwa der Luzerner Arzt Erich Noser. Fällt ein Test aber negativ aus, wird die gesuchte Mutation also nicht gefunden, sei das zwar beruhigend: «Es könnte aber auch dazu verleiten, Präventionsmassnahmen zu vernachlässigen.»
Viele Ärztinnen und Ärzte fragen sich deshalb, ob der Schaden von Krebs-Gentests nicht grösser ist als der mögliche Nutzen zumal längst nicht jeder Mensch, der ein «Krebsgen» trägt, wirklich an Krebs erkrankt. Das individuelle Risiko variiert je nach Typ der Mutation, je nach der eigenen Lebensgeschichte und auch von Land zu Land. Die Wahrscheinlichkeit, aufgrund einer bestimmten Genmutation im Lauf des Lebens an der entsprechenden Krebsart zu erkranken, kann fünf Prozent betragen, aber auch 80 Prozent.
Trotzdem hoffen die Gendiagnostiker, dass Menschen, die aufgrund ihrer genetischen Prädisposition als «krankheitsanfällig» gelten, ihr Erkrankungsrisiko durch gezielte Früherkennung und medikamentöse Prävention reduzieren können. Doch bei Krebs sind Gentests nur in wenigen Fällen sinnvoll; es klafft eine grosse Lücke zwischen der Diagnostik auf der einen Seite sowie Prävention und Therapie auf der anderen Seite: Menschen mit erhöhtem Krebsrisiko fehlt es schlicht an Massnahmen, die sie ergreifen könnten, um der Krebserkrankung vorzubeugen.
Für Marcel Zwahlen, Leiter der Forschungsförderung bei der Schweizerischen Krebsliga, haben Gentests vorderhand nur «experimentellen Charakter». Und Suzanne Braga warnt: «Es darf nicht wild drauflosgetestet werden, bloss um ein Register für Forschungszwecke anzulegen.»
Nicht nur die Gene im Auge haben
Profitieren können heute am ehesten Menschen, die Gene für Dickdarmkrebs in sich tragen: Bei einer vorsorglichen Darmspiegelung lassen sich alle sichtbaren Polypen in der Darmwand entfernen; solche Polypen sind oft die Vorstufe zu einem Karzinom. Ebenso kann es für Frauen mit erhöhtem Risiko für Eierstock- oder Brustkrebs in bestimmten Fällen sinnvoll sein, die Eierstöcke operativ entfernen zu lassen. Aber es gibt keine hinreichenden Belege dafür, dass Trägerinnen von «Brustkrebsgenen» eine vorsorgliche Brustamputation vornehmen sollten.
Ansonsten steht Menschen mit genetischer Krebsveranlagung die Früherkennung zur Verfügung. Und da ein Drittel bis die Hälfte der Krebsfälle lebensstilbedingt sind, besteht die wirksamste Prävention nach wie vor in einem ausgewogenen Gesundheitsverhalten: keine Zigaretten, regelmässige Bewegung, abwechslungsreiche und fettarme Ernährung, wenig Alkohol und keine übermässigen Sonnenbäder.
«Um möglichst viele Krebserkrankungen zu verhindern, nützt es wenig, sich auf die erblich bedingten zu konzentrieren», warnt Marcel Zwahlen von der Krebsliga. Und Suzanne Braga doppelt nach: «Das Allerwichtigste ist, den ganzen Menschen zu sehen und nicht nur seine Gene.»