Fast alle sind von der «sanften Medizin» begeistert. Ob Homöopathie, Akupunktur, Ayurveda oder Qigong: Komplementäre Methoden geniessen einen einzigartigen Vertrauensvorschuss. Nach dem euphorischen Bekenntnis des Schweizer Stimmvolks zur Komplementärmedizin im Mai 2009 wird zurzeit die Frage debattiert, ob alternative Verfahren in die obligatorische Krankenversicherung gehören. Viel wichtiger wäre dabei ein kritischer Blick auf die wild expandierende Therapeutenszene: Neben 3000 Ärzten praktizieren rund 20'000 nichtärztliche Anbieter über 200 komplementär- und alternativmedizinische Methoden. Nicht überall geht es seriös zu und her.

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Da gibt es einerseits hochangesehene Verbände wie die SBO-TCM, die Schweizerische Berufsorganisation für Traditionelle Chinesische Medizin. Wer hier sogenanntes A-Mitglied werden will, muss strenge Auflagen erfüllen, zum Beispiel eine mehrjährige, anspruchsvolle Ausbildung absolvieren. «Wir haben die Anforderungen in unserem Verband laufend gesteigert», sagt der langjährige Präsident Simon Becker. Er selbst führt in Wädenswil mit seiner Frau eine eigene Praxis für chinesische Medizin und gilt als äusserst kompetenter Vertreter seines Fachs. Auch mit den Schulmedizinern vor Ort ist der in den USA und China ausgebildete Therapeut mit dem jungenhaften Gesicht gut vernetzt. Beckers Ansprüche an die eigene Disziplin sind hoch: «Für die Akupunkturforschung ist es sehr wichtig, im Vergleich mit der Schulmedizin bestehen zu können», sagt er.

Am anderen Ende der Qualitätsskala rangiert jener Berner Akupunkteur, der, wie im letzten Juni bekanntwurde, 18 Personen vorsätzlich mit dem Aidsvirus infiziert haben soll – nicht mit Nadeln, sondern mit Spritzen. Die skandalöse Tat eines «schwarzen Schafs» – die aber irgendwie typisch ist für das Jekami, das die Komplementärmedizin insgesamt charakterisiert. Wer sich zum Heilen berufen fühlt, kann auf der Welle problemlos mitsurfen.

«In Einzelfällen immer wieder wirksam»

Bestens mit der Szene vertraut ist die Basler Ärztin Silva Keberle. Sie hat 1994 das Erfahrungsmedizinische Register (EMR) und ein entsprechendes Qualitätslabel ins Leben gerufen, auf das sich die Krankenversicherer stützen. Sie wolle keinesfalls schlecht über Komplementärmedizin reden, betont Keberle; denn diese Medizin sei spannend, vielschichtig und «in Einzelfällen immer wieder wirksam». Sie selbst sei mit Hilfe eines Osteopathen ihr Zähneknirschen losgeworden, das sie nachts während Jahren geplagt und vor dem jeder Kieferchirurg kapituliert hatte. Doch in vielen Bereichen gebe es Schwächen.

So sei die Szene zum Teil undurchsichtig und manchmal uferlos. «Es gibt oft keine genauen Definitionen», sagt Silva Keberle, «weder vom Gesamtbegriff Komplementär- und Alternativmedizin noch zur Frage, was sich Schule nennen darf, noch von einzelnen Methoden, die zum Teil ineinander übergehen oder über sich hinauswachsen, beispielsweise Kinesiologie oder Bioresonanz.»

Blutegel sollen Krampfadern heilen?

Die überwiegende Mehrheit der Therapeutinnen und Therapeuten lasse sich bei ihrem Tun von grosser Vorsicht leiten. In den 15 Jahren, die sie überblicke, seien ihr nur wenige schlimme Fälle zu Ohren gekommen, sagt Keberle. Trotzdem: «Vor Quacksalbern ist der Patient in der gegenwärtigen Situation nicht genügend geschützt.» Das EMR-Label bietet zwar Gewähr für die gute Aus- und Fortbildung der Therapeuten, es kann aber nichts über die Qualität der Behandlung aussagen. «Wer eine Alternative zur Schulmedizin sucht, verlässt sich in der Regel auf Mundpropaganda», sagt Silva Keberle. Aber ob einer schlecht ausgebildet ist oder womöglich pfuscht, sieht man ihm von aussen nicht an.

Pfusch war es zum Beispiel bei jenem Naturheiler, der in seiner Praxis im Solothurnischen eine Blutegeltherapie zur Behandlung von Krampfadern anbietet. Die Wirkstoffe, die die Blutegel während des Saugens abgeben, sollen unter anderem venöse Stauungen vermindern, erzählte der Therapeut einer 40-jährigen Patientin. Mit den Blutegeln gegen Krampfadern habe er verschiedene Male sehr gute Resultate erzielt. Er liess seine neue Klientin schriftlich bestätigen, dass Eisen- und Hämoglobinspiegel bei ihr «in Ordnung» seien. Doch er forderte keine aktuellen Werte an, ebenso wenig fragte er, ob die Patientin eine Blutungsneigung oder Probleme mit der Gerinnung habe.

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Resultat: Zwei Liter Blut verloren

Die erste Prozedur überstand die Patientin mit bleichem Gesicht und blutgetränkten Verbänden, nachdem die zwei Blutegel von ihrem Bein längst weg waren. Die zweite Prozedur am nächsten Tag zeitigte Folgen: In der Nacht blutete sie so stark, dass ihr Kreislauf kollabierte. Auf zwei Liter schätzte der anderntags konsultierte Hausarzt ihren Blutverlust, und dies bei einem chronischen Eisenmangel, den er Monate vorher festgestellt hatte. Eine «schlimme Geschichte», urteilt Keberle. Zwar sind Blutegel seit je in der Medizin etabliert, heute zum Beispiel in der plastischen Chirurgie; aber die Blutwerte nicht genau abzuklären sei «fahrlässig».

Zu einem guten Patientenschutz sollen die neuen eidgenössischen Berufsbilder «Alternativmedizin» und «Komplementärtherapie» beitragen (siehe Box am Ende des Artikels). Beim Bundesamt für Berufsbildung und Technologie ist die Arbeit in vollem Gang. Im Moment arbeite man an einer Berufsfeldanalyse, erklärt Simon Becker, der die Trägerorganisation der Alternativmediziner präsidiert. «Die grössten Probleme liegen hinter uns – jetzt wollen wir wie auch das Bundesamt, dass es zügig vorwärtsgeht.»

Mehr Zuwendung als vom Schulmediziner

Diese Professionalisierung ist unter anderem eine Folge der Vorlage «Zukunft mit Komplementärmedizin» vom Mai 2009, der Volk und Stände mit einer Zweidrittelsmehrheit zugestimmt haben. Es war ein Traumresultat für die Initianten – und dies mitten in einer Zeit von Spardruck und explodierenden Gesundheitskosten. Mit dem Verdikt wurde verfassungsmässig besiegelt, was viele Befürworter jahrelang gepredigt hatten: dass der Alternativ- und Komplementärmedizin neben der Schulmedizin ein ebenbürtiger Platz zustehe. Weil sie, wie ihre Anhänger unisono betonen, den Menschen Zeit gibt und sie gesamthaft beurteilt. Weil nicht nur das jüngste Röntgenbild, sondern auch der nächtliche Schlaf, die Vorliebe für Süsses oder Salziges oder die Neigung zum Schwitzen von Interesse sind. Weil viele chronisch Kranke und Austherapierte beim Naturheiler das bekommen, was ihnen der Schulmediziner nicht mehr geben kann: viel Zuwendung und Aufmerksamkeit.

«Die Komplementärmedizin ist extrem kreativ und offen für verschiedene Lösungen», sagt Silva Keberle. Und: «Sie trägt die Grossmutter-Regeln mit, also das Althergebrachte, Vertraute und Familiäre.» Sie steht auch hinter dem Konzept, dass Patienten ihre eigenen Stärken entdecken und ihre Selbstheilungskräfte aktivieren.

Simon Becker macht in seiner Praxis immer wieder die Erfahrung, dass er bei Personen, denen die Schulmedizin nicht helfen konnte, mit Akupunktur relativ einfach viel bewirkt. «Nicht weil Akupunktur besser wäre», betont der Wädenswiler, «sondern weil sie einen anderen Zugang sucht.» Klassisches Beispiel sei die Chemotherapie während einer Krebsbehandlung: Hier könne die chinesische Medizin viel helfen, diese harsche Therapie überhaupt durchzustehen. Ob das jahrtausendealte Regelwerk wissenschaftlichen Kriterien genüge, sei zweitrangig, findet Becker. «Doch die chinesische Theorie mit ihren Begriffen wie ‹Meridian› oder ‹Qi› liefert Erklärungsmodelle, an denen sich auch die Patienten orientieren.»

Von Schweizer Schokolade bis «Aromat»

Also nicht die wissenschaftlichen Belege, sondern der Glaube an das Verfahren ist es, was bei Simon Becker für das Patientenwohl an erster Stelle steht. Für viele ist der von den Komplementärmedizinern reklamierte «Glaube» aber ein Reizwort und Anlass für endlose Diskussionen, wie die heftige Homöopathiedebatte im «Tages-Anzeiger» unlängst zeigte. «Voodoo im Quadrat», sagt der Immunologieprofessor Beda Stadler, der prominenteste Skeptiker, über alternative Heilmethoden.

Dass die Komplementärmedizin tatsächlich ein fruchtbarer Boden für Scharlatanerie und Skurrilitäten ist, kann auch Silva Keberle bezeugen. Auf ihrem Schreibtisch landen Briefe, in denen zum Beispiel die «C4-Verreibung von Schweizer Schokolade» als homöopathischer Weiterbildungskurs beantragt wird. Ein anderes Schreiben attestiert einer Antragstellerin, «mühelos aus einer Kreation heraus zu shiften, Fühle-Es-Übungen mit gutem Erfolg, Avatar-Übungen mit Erfolg» und vieles mehr zu meistern. «Da wird oft unheimlich aufgedreht», resümiert Keberle. Dabei kommen auch Betrugsversuche vor, so zum Beispiel der Fall eines Therapeuten, der beim Fälschen seines Diploms «Aromat-Therapie» statt Aroma-Therapie als Heilmethode einfügte.

Viele wollen ans Unerklärliche glauben

Man mag sich über solche Beispiele lustig machen. Wer es dabei belässt, hat aber das Wesentliche der Komplementärmedizin nicht verstanden: Viele Menschen wollen glauben, dass ihnen etwas Unerklärbares hilft. «Wer austherapiert und chronisch krank ist, fragt nicht nach wissenschaftlichen Belegen, sondern ist empfänglich für transzendente Erklärungen», sagt Silva Keberle. Und das allein genüge oft bereits, um eine Wirkung zu erzielen. «Placeboeffekt» nennen das die Schulmediziner.

Darauf sollten die Alternativmediziner vermehrt ihr Selbstbewusstsein bauen, erklärt die Ärztin. «Statt immer wieder naturwissenschaftliche Kriterien wie die Quantenphysik zu bemühen und sich an der Schulmedizin zu messen, könnten die Komplementärmediziner ganz einfach sagen: ‹Wir wissen noch nicht warum, aber unsere Methoden wirken gut.›»

Das Angebot an Heilmethoden ist in der Schweiz unüberschaubar. Das Erfahrungsmedizinische Register (EMR) listet rund 200 auf – praktiziert werden mehr als doppelt so viele. Hilfe bei der Suche nach einem qualifizierten Therapeuten bietet das Internetregister EMindex.

Auf www.emindex.ch findet man über 6000 EMR-zertifizierte Therapeuten, zudem kann man sich dort über die verschiedenen Methoden informieren.

Ein Diagnoseverfahren, bei dem der Therapeut die Regenbogenhaut des Auges beurteilt. Die festgestellten Merkmale sollen Auskunft über krankheitserzeugende Schwachpunkte des Körpers geben.

Quelle: Thinkstock Kollektion

Mehrere Blutegel werden auf bestimmte Hautbereiche aufgesetzt, wo sie sich mit Blut vollsaugen. Der so erzeugte Blutentzug wirkt angeblich heilend, ebenso die Wirkstoffe, die die Tiere in den Kreislauf abgeben.

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Punktuelle oder flächige Bestrahlung der Haut mit farbigem Licht, das über die Meridiane zu den betroffenen Organen gelangen soll. Körperzellen werden «durch die Lichtfarben in ihre harmonische Grundschwingung gebracht»

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Patienten werden einem permanenten oder pulsierenden Magnetfeld ausgesetzt, das Beschwerden lindern soll. Die Magnetfelder erzeugen im Körper angeblich Ströme, der kranke Organismus beginnt «mitzuschwingen».

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Im äusseren Gehörgang des Patienten werden spezielle Kerzen abgebrannt. Das Verfahren soll verstopfte Poren öffnen, Durchblutung und körpereigene Abwehr anregen sowie Abfallstoffe und Sekrete abtransportieren.

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Spezielle Atemtechnik, um Geburtstraumata aufzuarbeiten. Es wird behauptet, durch das Auflösen alter Blockaden und Spannungen würden neue Lebensenergien freigesetzt, der Patient fühle sich «wie neugeboren».

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Eine ganzheitliche, energetische Körpertherapie mit diversen Massagetechniken, die von Max Sulser aus Thun (Su-Ma-Thu) entwickelt wurde. Sie basiert auf der Vorstellung, dass im Körper die Lebensenergie «Qi» zirkuliert.

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Eine Behandlungsmethode, von der behauptet wird, sie harmonisiere den Energiefluss zwischen den beiden Körperpolen (plus/minus) und den entlang der Körpermitte angeordneten Elementen Äther, Luft, Feuer, Wasser und Erde.

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Nach der US-Biochemikerin Ida Rolf (1896–1979) benannt. Eine sehr tiefe Bindegewebsmassage, mit deren Hilfe Fehlhaltungen des Körpers auf Dauer korrigiert werden sollen. Früher als «strukturelle Integration» bekannt.

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Mit Schröpfgläsern, die auf die Haut aufgesetzt werden, sollen Schadstoffe «ausgeleitet» werden. Durch das Vakuum kommt es zu einem Austritt von Blut und Lymphflüssigkeit in das Gewebe, das unter der Haut liegt.

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Eine Form der Körperpsychotherapie, bei der angeblich der Körper, Gefühle und Verstand gemeinsam angesprochen und integriert werden. Die Ganzheit der inneren und äusseren Haltung werde wiederhergestellt.

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Im Mai 2009 bekannte sich die Schweizer Bevölkerung mit satten 67 Prozent Jastimmen zur Alternativ- und Komplementärmedizin. Es war eine Ohrfeige für den damaligen Gesundheitsminister Pascal Couchepin, der im Frühling 2005 vier alternative Heilmethoden aus der Grundversicherung gekippt hatte: Homöopathie, Neuraltherapie, anthroposophische Medizin und chinesische Arzneitherapie.

Nun befassen sich verschiedene Gremien des Bundes mit der Umsetzung des Volksentscheids – unter Federführung von Couchepins Nachfolger Didier Burkhalter. Die Eidgenössische Leistungskommission etwa will bis Ende Jahr entscheiden, ob von Ärzten ausgeübte Methoden der Komplementärmedizin wieder in die Grundversicherung aufgenommen werden sollen. Nicht tangiert davon ist die nichtärztliche, von Therapeuten ausgeübte Komplementärmedizin: Sie wird auch künftig über Zusatzversicherungen abgedeckt.

Für die Therapeuten selbst bewegt sich zurzeit vieles. Das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) will die Methoden bündeln und die Ausbildung vereinheitlichen. Angestrebt werden zwei neue Berufe mit den vorläufigen Bezeichnungen «Alternativmediziner» und «Komplementärtherapeut».