Der Geruch von Orangen war der Vorbote. Unmittelbar nach der Geruchsaura setzte bei Nick Chiu starkes Kopfweh ein. Die Aura – ein Geruch oder ein Flirren vor den Augen – ist bei einigen Migränepatienten das erste Anzeichen eines Anfalls. So war es auch am Tag, als im Turnen ein Zwölfminutenlauf anstand: «Schon in der ersten Runde begann ich, Orangen zu riechen. Ich verliess sofort die Bahn und informierte den Turnlehrer, dass ich nach Hause muss.» Nick Chiu war damals 13 Jahre alt. Die Diagnose Migräne kam erst 4 Jahre später. 

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Eine so späte Diagnose ist leider häufig, wie Reto Agosti, Neurologe und Leiter des Kopfwehzentrums Hirslanden in Zürich, betont: «Zu 50 Prozent wird Migräne erst fälschlicherweise als Spannungskopfweh diagnostiziert Kopfschmerzarten im Vergleich Wo und wie tut der Kopf weh? .» Bei Männern dürfte die Zahl noch höher liegen. Gilt doch die Migräne bis heute als typisches Frauenleiden. «Bis zum Alter von 12 Jahren leiden Mädchen und Buben gleich viel an Kopfweh. Nach der Pubertät steigt die Häufigkeit bei den Frauen aufgrund der Hormone», sagt Agosti. 

Hoher Anstieg

Wegen des Zusammenhangs zwischen Migräne und Menstruationszyklus sind Frauen zwei- bis dreimal häufiger von Kopfschmerz-Attacken betroffen als Männer. Aber die Zahl der Männer mit Migräne – insbesondere der jungen Männer – nimmt zu. Zu diesem Schluss kam eine Untersuchung der deutschen Kaufmännischen Krankenkasse 2018. Sie verzeichnete von 2006 bis 2016 bei den 15- bis 19-jährigen Männern einen deutlichen Anstieg um rund 40 Prozent. Im Alter von 25 bis 29 Jahren betrug der Anstieg sogar fast 70 Prozent. 

Eine seltenere Art von Kopfweh, die Cluster-Kopfschmerzen, treffen hingegen Männer deutlich stärker als Frauen. Sie erkranken sechs- bis achtmal häufiger daran. Diese äusserst starken Kopfschmerzen im Augen- oder Schläfenbereich treten plötzlich auf und dauern 15 Minuten bis 3 Stunden. «Am häufigsten trifft es Männer zwischen 30 und 40. Bis sie die Diagnose erhalten, dauert es oft noch länger als bei der Migräne», erklärt Colette Andrée, Apothekerin und Geschäftsführerin von Migraine Action, der Organisation für einen besseren Umgang mit Migräne und Kopfschmerzen in der Schweiz. 

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Nachlassendes Verständnis für Migräneanfalle

Mit dem Kopfschmerz signalisiere unser Körper, dass er Ruhe brauche, sagt Neurologe Agosti: «Um sich zu erholen, kann man nur noch liegen und sich unter Umständen kaum mehr bewegen.» Gemäss einer Studie aus Norwegen nimmt die Häufigkeit der Migräne bei Männern und Frauen zu. Als mögliche Gründe sieht der Arzt zunehmenden Stress und Leistungsdruck in unserer Gesellschaft. 

Insbesondere bei den jungen Männern kommen laut Colette Andrée neue Faktoren wie ein hoher Bildschirmkonsum und ein bewegungsarmer Lebensstil hinzu: «Möglicherweise hat eine ungesunde Ernährung einen zusätzlichen Einfluss.» Grundsätzlich sei die Migräne aber genetisch bedingt: «Entweder ist ein Gehirn fähig, Migräne zu produzieren, oder nicht.» So ist es auch bei Nick Chiu. Beide Eltern und die Schwester kennen Migräne aus eigener Erfahrung.

Im Alter zwischen 18 und 20 begannen Nick Chius Migräneanfälle häufiger zu werden und länger zu dauern. In der leidvollsten Zeit in seinen Zwanzigern waren es zwei bis vier pro Woche. Am Anfang wollte der Informatiker keine Medikamente nehmen, aber daran war bald nicht mehr zu denken. Doch mit der Zeit wirkten herkömmliche Arzneimittel und andere Migräneprophylaxen nicht mehr. Die häufigsten Trigger, wie die Auslöser genannt werden, waren bei Chiu wetter- und jahreszeitenbedingt: «Den Wechsel von Winter auf Frühling und Sommer auf Herbst spürte ich jeweils extrem. An Föhntagen hatte ich ebenfalls immer Migräne.» Und auch wenn er zu wenig trinkt oder gestresst ist, reagiert sein Körper mit Migräne. 

Die regelmässig auftretenden Schübe beeinflussten seine Lebensqualität massiv: «Es war nicht nur für mich schwer, sondern auch für mein Umfeld. Das war kein Leben mehr.» Irgendwann liess das Verständnis der Freunde, der Partnerin und des Arbeitgebers nach. Immer wieder musste er Verabredungen absagen und konnte seine Hobbys nicht mehr ausüben. Er verlor Kollegen, und schliesslich hielt auch die Partnerschaft der Belastung nicht mehr stand. 

Hören die Kopfschmerzen je wieder auf? 

Bei Migräneanfällen konnte er nichts mehr tun, nur noch stundenlang im Dunkeln liegen, er ertrug kein Licht und auch keine Gespräche. In seiner schwersten Zeit wechselten sich Migräne und normale Spannungskopfschmerzen ab. Nick Chiu: «Ich erwachte drei Monate lang am Morgen mit Kopfweh, und irgendwann kam die Migräne dazu.» Damals dachte er sogar darüber nach, sein Leben zu beenden. «Der Schmerz ist übel genug, aber man fühlt sich auch hilflos, weil man nicht weiss, ob man das jemals wieder loswird», erinnert er sich.

Besonders schwierig war das Arbeiten. «Anfangs war das Verständnis des Arbeitgebers noch da. Mit der Zeit bekam ich zu spüren, dass er mir nicht mehr glaubte», sagt Nick Chiu. Dieser Stress wirkte wiederum als Migränetrigger – ein Teufelskreis. Eine Stelle verlor er sogar deswegen. Andere Arbeitgeber wie der aktuelle waren sehr verständnisvoll und gaben ihm zu verstehen, er solle sich lieber einen Abend länger ausruhen, als gleich wieder zu arbeiten. «Ich liebe meinen Job. Aber es ist für Migräniker Gold wert, wenn dieser Druck nicht da ist.»

Nick Chiu glaubt, dass das Verständnis für Migräne in der Gesellschaft generell zu klein ist, aber dass man bei Frauen vielleicht etwas einfühlsamer reagiert. Denn Mann und Migräne sind noch für viele eine ungewohnte Kombination. Viele Männer – auch in Führungspositionen – gehen trotz akuter Migräne arbeiten, weil sie ihr Leiden verstecken. «Dabei sind sie viel weniger produktiv. Dieser Präsentismus Arbeitsrecht Mit Grippe zur Arbeit? verursacht einen hohen volkswirtschaftlichen Schaden», betont Mediziner Reto Agosti. Gerade bei Männern sei die Dunkelziffer hoch, denn sie glaubten, keine Schwäche zeigen zu dürfen.

Medizin-Odyssee

Dies hat auch Nick Chiu getan, allerdings war es ein beschwerlicher Weg mit vielen Umwegen und Sackgassen: Was die Medikamente betrifft, hat er sehr vieles ausprobiert. Zudem halfen Waldspaziergänge , Yoga und Meditation, den Stress zu reduzieren und zu entspannen. Dank Teilnahme an einer Medikamentenstudie am Kopfwehzentrum Zürich war Nick Chiu in den letzten drei Jahren schmerzfrei – ein neues Leben für ihn.

Da die Studie ausgelaufen ist, musste er das Medikament erst einmal absetzen. Selbst wenn die Anfälle wieder kommen sollten, ist er sehr dankbar für die schmerzfreien Jahre. In einer Facebook-Gruppe hat er den Kontakt zu Gleichgesinnten aus aller Welt gefunden. Dort hat er erfahren, dass selbst 65-Jährige noch an Migräne leiden, aber oft weniger ausgeprägt. Nick Chiu: «Ich hoffe immer noch, dass ich zu den Fällen zähle, bei denen die Migräne im Alter nachlässt.»

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