Es ist ein weit verbreitetes Phänomen, dass Angestellte krank zur Arbeit erscheinen. Fachleute nennen es Präsentismus. Etwa die Hälfte aller Erwerbstätigen in der Schweiz geht mindestens einmal pro Jahr krank zur Arbeit, wie die letzte Stress-Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft im Jahr 2010 aufzeigte.

Die Gründe dafür: Die Mitarbeiter fürchten sich davor, den Arbeitsplatz zu verlieren oder ihre Ziele nicht erfüllen zu können. Daher schleppen sie sich zur Arbeit oder erledigen selbst im Home-Office noch Aufgaben, anstatt sich richtig zu erholen.

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Eine andere Studie zeigt wiederum, dass der Druck, im Büro Präsenz zu zeigen, gerade für chronisch Kranke zum Teufelskreis werden kann. Während unter jenen, die ihre Gesundheit als «sehr gut» bezeichnen, «nur» 58 Prozent ab und zu oder gar regelmässig krank zur Arbeit gehen, sind es bei den Befragten mit schlechter Gesundheit 90 Prozent.

Arbeitgeberverbände schlagen nun vor, das Arbeiten von zu Hause aus mehr zu unterstützen, wenn der Mitarbeiter krank ist.

Krank im Home-Office: Der Druck bleibt

Eine solche Überlegung stammt beispielsweise vom Schweizerischen Gewerbeverband. Für Angestellte, die für ihre Arbeit nur den Computer und das Telefon bräuchten, «würde Home-Office im leichten Krankheitsfall mit reduziertem Pensum Sinn machen», sagt der ehemalige Verbandspräsident Jean-François Rime gegenüber «20 Minuten». Auch vom Schweizerischen Arbeitgeberverband heisst es, dass man neue Entwicklungen im Absenzenmanagement mit Interesse verfolge.

Das Problem allerdings ist, dass der Stress anstatt im Büro einfach zu Hause weitergeht. Arbeitgeber können ihre Angestellten auch im Home-Office kontrollieren.

Gesundheitliche Langzeitfolgen werden unterschätzt

Aus medizinischer Sicht ist es für den angeschlagenen Körper nicht besser, in den eigenen vier Wänden Mails zu beantworten und Geschäftliches am Telefon zu regeln. Gerade deswegen ist es wichtig, dass Arbeitnehmer ihre Rechte und Pflichten bei einer Krankschreibung kennen (siehe unten «5 Fragen an die Beobachter Rechtsexperten»).

Die Idee der Arbeitgeberverbände, die Telearbeit zu fördern, damit kranke Angestellte die gesunden Kollegen nicht anstecken, ist im Grund gut gemeint. Auch für diejenigen Mitarbeiter, die zu Hause den Aufgabenstapel etwas abarbeiten wollen. Dennoch kann alleine schon der Gedanke oder die Erwartungshaltung des Vorgesetzten, der Angestellte müsse trotz erhöhter Temperatur einsatzbereit sein, die Genesung behindern. Ein Mitarbeiter, der angeschlagen ist, wird weniger produktiv arbeiten und weniger konzentriert die Aufgaben erledigen können als ein gesunder Arbeitskollege.

Aber nicht nur aus gesundheitlichen oder wirtschaftlichen Gründen müssten Arbeitgeber Kranke von der Arbeit abhalten. Sie sind auch rechtlich dazu verpflichtet, Arbeitnehmer vor Überlastung zu bewahren, auch wenn sie oft das Gegenteil tun. Sie belohnen Angestellte, die nie fehlten, mit einer Prämie – oder kürzen Kranken die Gratifikation. Das ist rechtlich heikel.

Mehr zu Arbeitsunfähigkeit bei Guider

Bei einer Krankheit oder einem Unfall haben Arbeitnehmer Rechte und Pflichten. Für wie lange erhält man bei Arbeitsunfähigkeit noch den Lohn? Darf der Chef einfach kündigen? Was darf man mit einem Arztzeugnis noch in der Freizeit tun? Guider gibt Beobachter-Abonnenten Antworten auf diese und weitere Fragen.

5 Fragen an die Beobachter-Rechtsexperten

1. Ich bin wegen einer Grippe zu Hause geblieben. Kann mein Chef von mir verlangen, trotzdem E-Mails zu checken und Telefone entgegenzunehmen?
Nein. Wenn Sie krankgeschrieben sind, entscheidet alleine der Arzt, was Sie tun können und was nicht. Werden Sie aufgefordert, auf E-Mails zu antworten oder Geschäftsanrufe zu erledigen, berufen Sie sich auf das Arztzeugnis. Antworten Sie dem Chef oder Kollegen, dass Sie krank sind, man Ihnen Ruhe verordnet hat und Sie auf keine Geschäftsmails oder Anrufe eingehen. Sagen Sie, dass Sie sich nach dem nächsten Arzttermin wieder bei Ihrem Vorgesetzten melden und ihn über Ihre Einsatzfähigkeit informieren. Reichen Sie notfalls ein detailliertes Arztzeugnis ein.

 

2. Mein Hausarzt hat mich zu 50 Prozent krankgeschrieben. Was heisst das jetzt für mich?
Wenn Sie mit einem Pensum von 100 Prozent angestellt sind, dann arbeiten Sie auch nur zur Hälfte der vertraglich vereinbarten Wochenarbeitszeit. Ob Sie die Arbeitsleistung zu Hause verrichten oder mit dem Arbeitgeber individuell vereinbaren, ganztags ins Büro zu kommen und dafür andere Tage frei zu nehmen, liegt an der Kompromissbereitschaft beider Seiten sowie an der Vorgabe des Arztes. Wenn Sie allerdings Teilzeit arbeiten, sollten Sie dies auch unmissverständlich gegenüber Ihrem Arzt erwähnen. Nur dann kann er genau festlegen, ob Sie etwa bei einem 50 Prozent Pensum auch nur 50 Prozent davon arbeiten, also mit einem Viertelpensum weiter arbeiten.

 

3. Mein Chef sagt, dass meine Erkrankung nicht ansteckend sei. Ich könne deswegen doch trotzdem zur Arbeit kommen. Muss ich?
Ihr Chef ist kein Arzt. Ob Sie trotz Erkrankung zur Arbeit gehen, hängt auch vom jeweiligen Leiden ab und was der Arzt für nötig erachtet. Sollte der Chef an Ihrer Arbeitsunfähigkeit zweifeln oder sollte er von einem Gefälligkeitszeugnis ausgehen, kann er Sie zum Vertrauensarzt schicken. Dieser kann dem Arbeitgeber zurückmelden, ob eine Krankschreibung gerechtfertigt ist, in welchem Ausmass und für wie lange Sie nicht mehr arbeiten können und ob Sie vielleicht trotzdem bestimmte Arbeiten verrichten können.

 

4. In meinem Arztzeugnis steht, dass ich trotz Krankschreibung zum Beispiel auch Ausflüge machen darf. Mein Arbeitgeber interpretiert das so, dass ich auch von zu Hause aus arbeiten kann. Hat er damit recht?
Auch hier entscheidet der Arzt durch das Zeugnis, ob Sie sich zu Hause erholen sollen respektive in welchem Umfang Bewegung und Freizeitaktivitäten erlaubt sind. Der Arbeitnehmer ist während der Krankschreibung verpflichtet, alles Zumutbare zu tun, was der Genesung dient. Und sollte alles vermeiden, was ihm schadet. Was der Arbeitgeber aus diesem Zeugnis interpretiert, ist irrelevant.

 

5. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich bei einer Erkältung zu Hause bleibe, andere jedoch nicht. Führt deren Verhalten nicht noch zu mehr Druck unter den Mitarbeitern?
Ja, das ist so. Deshalb sollte der Arbeitgeber Präsentismus entgegenwirken und kranke Mitarbeiter nach Hause schicken (siehe weiter unten «Krankheit: Die Pflichten des Arbeitgebers»). Es liegt auch in seinem Interesse, dass die gesunden Mitarbeiter nicht angesteckt werden. Bleiben Sie deshalb konsequent und halten Sie sich vom Arbeitsplatz fern, wenn Sie sich nicht arbeitsfähig fühlen. Vergleichen Sie sich nicht mit anderen, die trotzdem ins Büro kommen.

Krankheit: Pflichten der Arbeitnehmer

Sie müssen die Arbeit aussetzen,

  • wenn Sie arbeitsunfähig sind.
  • wenn die Arbeit der Heilung schadet – vor allem wenn sich die Krankheit verschlimmern kann, sie noch länger dauern oder chronisch werden könnte.  
  • wenn Sie an einer ansteckbaren Krankheit leiden.



Folgen einer Nichtbeachtung

Kämen Angestellte trotzdem zur Arbeit, wäre das eine «arbeitsvertragliche Pflichtverletzung», eine Verletzung der Treuepflicht. Im Extremfall könnte der Arbeitgeber auf die Idee kommen, bei einer verlängerten Arbeitsunfähigkeit die Lohnfortzahlung zu verweigern, weil die Krankheit nicht mehr unverschuldet ist. Hier ist aber klar, dass der Arbeitgeber alle zumutbaren Möglichkeiten vorher ausgeschöpft haben muss, die Angestellte vor sich selbst zu schützen. Auf keinen Fall darf die Chefin die Lohnfortzahlung verweigern, wenn sie dafür sorgte, dass die kranke Angestellte gearbeitet und so die Krankheit verschleppt hat.

Krankheit: Pflichten des Arbeitgebers

Diese Massnahmen sollen Chefs ergreifen, um Präsentismus zu verhindern:

  • Die Arbeit so organisieren, das Arbeitnehmer bei Krankheit gelassen zu Hause bleiben können (etwa Stellvertretung organisieren, Ziele anpassen und auf unbezahlte Karenztage zu Beginn einer Absenz verzichten).
  • Bei offensichtlicher Arbeitsunfähigkeit und fehlender Einsicht der kranken Person muss die Chefin von ihrem Recht Gebrauch machen und die Angestellte nach Hause schicken.
  • Wenn nötig, ist auch die Weiterarbeit von zu Hause aus zu verbieten.
  • In begründeten Einzelfällen kann es notwendig sein, den Computerzugang zum Firmennetzwerk sperren zu lassen.


Folgen einer Nichtbeachtung

Wer darunter leidet, dass sie oder er wegen Krankheit nie zu Hause bleiben kann, könnte vor Gericht klagen oder die Arbeit verweigern, bis das Management eine Lösung gefunden hat. Denkbar wäre auch, Schadenersatz oder eine Genugtuung zu verlangen. Was das für die weitere Zusammenarbeit bedeutet, ist eine andere Frage.

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Quelle: Beobachter Edition