«Ich wollte es nicht wahrhaben»
Sie war noch keine 40, als sie die Diagnose erhielt: Eine Betroffene erzählt über ihr Leben mit chronischen Schmerzen.
Veröffentlicht am 3. Januar 2017 - 10:32 Uhr
aufgezeichnet von Birthe Homann:
«Ich war Anfang 30, hatte gerade geheiratet und schrieb meine Doktorarbeit. Da fragte mich der Augenarzt, ob ich Rheuma hätte. Ich war wegen einer Hornhautentzündung bei ihm – typisch bei Gelenkerkrankungen, das weiss ich heute. Entgeistert schaute ich ihn an und sagte lachend: «Nein, sicher nicht.»
Mehrere Jahre lang habe ich den Vorfall vergessen, die Warnung einfach abgetan. Ich war mit Familienplanung beschäftigt, 2005 kam unser erster Sohn zur Welt. Und ich arbeitete an meiner Karriere, hatte eine spannende Assistenzstelle an der Universität Bern angenommen und versuchte, Kleinkind und fordernden Job unter einen Hut zu bringen. Es war anstrengend, aber gut. Da begannen sich die Beschwerden plötzlich zu häufen.
Ich dachte, es handle sich um eine Sehnenscheidenentzündung. Auch die Schultern taten weh; manchmal stieg ich in den Zug, und in Bern angekommen, konnte ich die Jacke vor lauter Schmerzen fast nicht mehr anziehen.
Einmal musste ich deswegen notfallmässig ins Inselspital. Die Untersuchungen ergaben nichts, ich bekam einfach starke, entzündungshemmende Medikamente. Die nahm ich dann, wenn es wieder weh tat.
«Ich fühlte mich völlig allein, dachte: Nein, das stimmt doch gar nicht, ich bin noch nicht mal 40 und soll Rheuma haben?»
2009 kam unser zweiter Sohn. Die Schmerzen in den Gelenken wurden stärker. Zunehmend taten auch Füsse und Hüfte weh. Ich fragte mich schon, ob das normal sei oder vielleicht psychisch bedingt. Weil das Leben mit zwei Kindern einfach noch anspruchsvoller geworden war. Ich wollte nicht wahrhaben, dass etwas nicht stimmte.
Im Sommer 2010 ging dann aber gar nichts mehr. Ich vertraute mich der Kinderärztin unserer Söhne an, die so zu meiner Hausärztin wurde.
Sie untersuchte mein Blut und stellte extrem hohe Entzündungswerte fest. Ein Alarmzeichen. Sie schickte mich zu einem jungen Rheumaspezialisten und sagte, der begleite mich durchs Leben. Damals habe ich die Tragweite nicht so richtig registriert. Heute ist mir klar, was sie mir damit sagen wollte: dass ich eine Krankheit habe, die nicht wieder weggeht.
Der Spezialist untersuchte mich drei Stunden lang und entliess mich mit den Worten: «Sie haben rheumatoide Polyarthritis, eine unheilbare, aber therapierbare Krankheit.» Das war ein Schock. Ich müsse sofort mit der Therapie beginnen, mir wöchentlich ein Krebsmedikament spritzen, das bei dieser Art von Rheuma helfe. Es war eine Art Chemotherapie light.
Ich fühlte mich völlig allein, dachte: Nein, das stimmt doch gar nicht, ich bin noch nicht mal 40 und soll Rheuma haben? Der irrt sich. Ich war aufgelöst, fragte meine Hausärztin, ob es fahrlässig sei, nicht mit der Therapie zu starten. Ob es eine homöopathische Alternative gebe. Die gab es, nur half sie mir überhaupt nicht. Ich bekam immer heftigere Attacken, und die Schübe mehrten sich.
Im Mai 2011 hatte ich einen psychischen Zusammenbruch. Die Ärztin schrieb mich krank und legte mir nahe, doch mit der «richtigen» Therapie zu beginnen. Erst musste ich Kortison nehmen, dann wechselte ich zum Krebsmedikament Methotrexat. Ich war bis Ende Jahr krankgeschrieben.
Im Herbst musste ich wegen starker Nackenschmerzen in die Röhre – mit Verdacht auf Hirntumor. Ich dachte, ich müsste sterben. Und nahm mir vor, nach Hawaii zu reisen, falls ich überlebe. Das machten wir dann als Familie im Februar und März 2012. Diese Auszeit war wunderbar. Mir wurde vieles klar, etwa dass ich mich mit der Krankheit arrangieren musste. Ich kündigte die Stelle in Bern und fing mit einem viel kleineren Pensum an der Uni Zürich an.
Immer mehr spezialisierte ich mich auf Gleichstellungsfragen und wurde zur Fachfrau in der Nachwuchsförderung von Frauen in der Wissenschaft. Heute arbeite ich ein bis zwei Tage pro Woche, mehr schaffe ich nicht. Vieles kann ich auch von daheim aus erledigen. Das ist gut so.
Lange konnte ich das aber nicht so sehen, mein Lebensziel war es, Professorin zu werden. Ich hatte eine wahnsinnige Identitätskrise, fragte mich, ob ich meine Krankheit hätte verhindern können, ob ich selber schuld daran sei.
Heute spüre ich, was mir guttut und was nicht. Aber zeitweise hatte ich jedes Selbstvertrauen verloren. Mein Mann und meine Kinder haben mir Kraft gegeben und immer geholfen. Man sieht mir äusserlich ja nichts an, ich bin ein ganz normales Mami.
Dank der Therapie bin ich heute schmerzfrei. Klar, ich muss die Medikamente regelmässig nehmen und mich viel bewegen, schwimmen oder spazieren. Sehr belastbar bin ich nicht, ich habe mein Leben an meine Situation angepasst. Meine Hausärztin ist mir eine grosse Stütze, zu ihr gehe ich regelmässig.
Letztes Jahr habe ich das Krebsmedikament abgesetzt, weil ich die psychischen Nebenwirkungen nicht mehr ertrug. Nun nehme ich nur noch einmal im Monat ein starkes Rheumamedikament, bis jetzt geht es auch so.
Im Job läuft es rund, bei Stellenbewerbungen habe ich aber auch schlechte Erfahrungen gemacht. Ich wurde auf meine Krankheit reduziert, man traute mir nichts zu. Ich gehe sehr offen mit dem Thema um. Ich habe gelernt, Rheuma als Teil von mir zu akzeptieren, und kämpfe nicht mehr jeden Tag dagegen. Nur so geht es.»