«Neue Studien bringen Mobilfunkstrahlung in Verbindung mit Krebs», titelte das Magazin «Scientific American» im März. Im Juli legte der britische «Guardian» nach: «Die unbequeme Wahrheit über Krebs und Mobiltelefone». Das US-Nachrichtenmagazin «Newsweek» fragte: «Verursachen Mobiltelefone Krebs? Studie der Regierung offenbart ‹beeindruckend wichtige› Ergebnisse».

Die genannte Studie ist die bisher grösste, robusteste zur Frage, ob Mobilfunkstrahlung das Krebsrisiko bei Mäusen und Ratten erhöht. Mit Kosten von 25 Millionen Dollar war sie auch die teuerste. Die US-Gesundheitsbehörde FDA gab sie beim National Toxicology Program (NTP) in Auftrag.

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Die NTP-Forscher setzten mehr als 2500 Versuchstiere unterschiedlich starker Strahlung der Mobilfunkstandards GSM und CDMA aus. Diese Standards der zweiten und dritten Generation (2G und 3G) wurden bei Planung der Studie mehrheitlich eingesetzt und werden auch heute noch benutzt.

Die höchste Strahlendosis wurde so gewählt, dass sich das Gewebe nicht mehr als um ein Grad Celsius erwärmte. Man wollte so prüfen, ob ein anderer Effekt als die Erwärmung bei den Tieren Krebs auslösen kann. Zugleich musste die Strahlendosis hoch genug sein, um einen möglichen toxischen Effekt überhaupt sichtbar zu machen.

Herzstück der Studie stammt aus der Schweiz

«Im menschlichen Experiment haben wir fünf Milliarden Handynutzer. Das können wir im Tierversuch nicht nachstellen. Wenn wir da einen Effekt sehen wollen, muss die Dosis entsprechend hoch sein», sagt ETH-Professor Niels Kuster. Er hat 1999 die It’is-Stiftung für Forschung über Informationstechnologie in der Gesellschaft ins Leben gerufen. Ihr Ziel: die Sicherheit und Qualität von Geräten zu verbessern, die mit elektromagnetischen Feldern arbeiten.

Aus dem Umfeld der Stiftung stammt das System, mit dem weltweit geprüft wird, ob Geräte die maximal erlaubte Strahlung nicht überschreiten – den SAR-Wert von 2 Watt pro Kilogramm.

Niels Kuster und sein Team haben für die NTP-Studie das Herzstück entworfen: 21 strahlendichte Echokammern, in denen die Versuchstiere der Strahlung ausgesetzt werden konnten. Der Clou: In der ganzen Kammer wurde ein elektromagnetisches Feld erzeugt, das aus allen Richtungen gleich stark ist. So war es möglich, dass sich die Tiere frei bewegen konnten.

So wird die Handystrahlung gemessen

Handystrahlung messen

Der Dummy-Kopf ist mit einem speziellen Gel gefüllt, das menschliches Gewebe imitiert. Er enthält Sensoren, die messen, wo im Kopf bei verschiedenen Funktionsweisen des Handys wie viel Strahlung einwirkt. Aufgrund dieser Messungen kann die spezifische Absorptionsrate (SAR) ermittelt werden. Sie gibt an, wie viel Strahlungsleistung der Körper aufnimmt. Weltweit sind mehrere hundert dieser Systeme im Einsatz.

Quelle: It'is Foundation

Die Mäuse wurden Ganzkörper-SAR-Werten von 2,5, 5 und 10 Watt pro Kilogramm ausgesetzt. Bei den Ratten waren es 1,5, 3 und 6 Watt. SAR steht für spezifische Absorptionsrate und gibt an, wie viel Strahlungsleistung der Körper aufnimmt.

Zum Vergleich: Die Internationale Kommission für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (ICNIRP) empfiehlt, dass Mobiltelefone 2 Watt pro Kilogramm lokal nicht überschreiten. Selbst wenn ein Handy bei schlechter Verbindung maximal strahlt, sind Nutzer dieser Strahlung nur ganz lokal an Ohr und Hand ausgesetzt, nicht am ganzen Körper. Für die Bestrahlung des ganzen Körpers, etwa durch Mobilfunkantennen, empfiehlt die ICNIRP einen Grenzwert von 0,08 Watt pro Kilogramm.

Unter Dauerstrahlung

Die Versuchstiere wurden der Mobilfunkstrahlung zwei Jahre lang ausgesetzt, sieben Tage die Woche, jeweils neun Stunden täglich, beginnend bereits im Mutterleib. Vor zwei Jahren publizierten die Forschenden Teilergebnisse. Diesen März begutachteten Experten bei einem dreitägigen Treffen die Berichtsentwürfe. Im Herbst sollen nun die definitiven Ergebnisse publiziert werden.

So viel lässt sich schon jetzt sagen: Bei den Mäusen gab es keine eindeutigen Hinweise auf ein erhöhtes Krebsrisiko. Bei den Ratten wurden teilweise leicht erhöhte Tumorraten in Gehirn, Prostata, Hirnanhangdrüse, Nebenniere, Leber und Bauchspeicheldrüse festgestellt. Sie konnten jedoch nicht in klaren Zusammenhang mit der Mobilfunkstrahlung gebracht werden.

Allerdings fanden die Forscher bei männlichen Ratten ein leicht erhöhtes Auftreten von sogenannten Schwannomen am Herz – das sind Tumore der Schwann-Zellen, die der Isolation von Nervenzellen dienen. Die hochkarätig besetzte Kommission aus Toxikologen kam zum Schluss, dass das eine Folge der Mobilfunkstrahlung ist.
 

«Es ist eine gut gemachte Studie, die grösste Tierstudie bisher. Deshalb sind die Resultate sehr bedeutend.»

Martin Röösli, Epidemiologe am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut in Basel


«Die Resultate überraschten viele», sagt Niels Kuster. «Denn bisher ist kein Mechanismus bekannt, durch den elektromagnetische Strahlung Krebs verursachen könnte.» Er räumt ein: «Wenn diese Resultate Ende der neunziger Jahre herausgekommen wären, hätten sie wohl einen grossen politischen Effekt gehabt und die Forschungsförderung seriös angestossen. Doch unterdessen haben sich die Leute daran gewöhnt, ihr Handy immer und überall dabeizuhaben. Und Industrie und Behörden haben beschlossen, dass Mobilfunkstrahlung kein Risiko darstellt.»

Niels Kuster, ETH-Professor

«Industrie und Behörden haben beschlossen, dass Mobilfunkstrahlung kein Risiko darstellt.» – Niels Kuster, ETH Professor.

Quelle: It'is Foundation
«Schade, dass es keine Entwarnung gibt»

«Es ist eine gut gemachte Studie, die grösste Tierstudie bisher. Deshalb sind die Resultate sehr bedeutend», sagt Martin Röösli, Epidemiologe am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut in Basel. Er leitet die Beratende Expertengruppe nichtionisierende Strahlung des Bundes.

Doch die Fallzahlen seien trotz dem Umfang der Studie nicht gross, die Interpretation der Daten sei entsprechend sehr schwierig. «Wenn nun 3 von 100 bestrahlten Ratten einen Tumor entwickeln und in der Kontrollgruppe keine einzige, dann sieht das sofort nach sehr viel aus. Möglicherweise ist es aber nur ein Zufallsbefund», sagt Röösli. Man müsse sich auch fragen, warum die Effekte nur bei männlichen Ratten auftraten – und warum die bestrahlten Versuchstiere eine höhere Lebenserwartung aufwiesen als diejenigen der Kontrollgruppe, die keiner Strahlung ausgesetzt waren.

Die Resultate bereiten Röösli keine Sorgen. «Es ist natürlich schade, dass es keine Entwarnung gibt. Und möglicherweise gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Mobilfunk und Krebs. Aber selbst wenn, ist er sicher nicht stark. Im Vergleich zu bekannten Krebserregern wie etwa ionisierender oder ultravioletter Strahlung waren die beobachteten Effekte hier sehr schwach.» Das Ganze habe aber eine gewisse Relevanz, weil Handynutzung so verbreitet sei: «Selbst wenn nur jeder millionste Handynutzer einen Tumor bekäme, wären das schon Tausende Tumore jedes Jahr.»

Anpassung auf «wahrscheinlich krebserregend» gefordert

«Die NTP-Studie hat eine hohe Qualität», sagt auch Meike Mevissen, die an der Uni Bern die Abteilung Veterinär-Pharmakologie und Toxikologie leitet und der beratenden Kommission des Bundes angehört. Gliome und Herz-Schwannome seien aber sehr seltene Krebsarten. Deshalb sei es bei nur 90 Tieren pro Gruppe schwierig, einen statistisch aussagekräftigen Effekt zu erzielen.

Aus ihrer Sicht stützen die Ergebnisse der Studie die Einschätzung der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC). Sie stufte 2011 Mobilfunkstrahlung als «möglicherweise krebserregend» ein – aufgrund von Hinweisen aus Studien, dass die Langzeitnutzung von Handys eventuell in Verbindung steht mit Hörnerv-Tumoren und Gliomen im Gehirn. Bei Hörnerv-Tumoren sind wie bei der NTP-Studie Schwann-Zellen betroffen.
 

«Es ist wichtig, dass wir am Vorsorgeprinzip festhalten.»

Peter Kälin, Präsident der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz


«Die Studie müsste zur Folge haben, dass die IARC ihre Beurteilung nach oben anpasst, auf ‹wahrscheinlich krebserregend›», sagt Peter Kälin, Präsident der Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz. «Die Studie sollte eigentlich nachweisen, dass Mobilfunkstrahlung nicht schädlich ist. Stattdessen liefert sie deutliche Hinweise, dass sie Krebs auslösen könnte.»

Kälin wünscht sich, dass die Studie politische Folgen hat. «Es ist wichtig, dass wir am Vorsorgeprinzip festhalten.» Er sieht sich bestärkt im Engagement gegen erhöhte Grenzwerte für nichtionisierende Strahlung, wie sie die Industrie im Zusammenhang mit der Einführung des 5G-Standards 5G-Mobilfunk «Es gibt sicher noch einige Unsicherheiten» fordert. Erst im März hatte der Ständerat knapp eine entsprechende Motion abgelehnt.

Im März hiess es bei der IARC, eine Neueinschätzung werde eventuell vorgenommen, wenn das NTP die endgültigen Berichte publiziert habe. Beim in der Schweiz zuständigen Bundesamt für Umwelt heisst es auf Anfrage, derzeit bereite man eine kleine Revision der NIS-Verordnung vor, die die Regelungslücken im Hinblick auf die 5G-Einführung decken soll. Details könne man nicht bekanntgeben, die Diskussion laufe noch.

Fehlendes Fachwissen beim Bundesamt

Zur NTP-Studie und zu allfälligen politischen Folgen werde sich das Bundesamt erst äussern, wenn die Stellungnahme der beratenden Expertengruppe vorliege. Allerdings seien der Leiter der Sektion Nichtionisierende Strahlung und die Zuständige für Auswirkungen und Immissionsgrenzwerte gerade pensioniert worden, und so fehle es teils an Fachwissen. Bis diese Kompetenz wieder aufgebaut sei, werde es einige Zeit dauern.

«Die Resultate sind nicht direkt übertragbar auf die Grenzwerte von Mobilfunkantennen», sagt Martin Röösli. «Sie sind relevant für die Bestrahlung durch das eigene Handy, die bei einem durchschnittlichen Nutzer 95 Prozent der Strahlenbelastung ausmacht.»

Niels Kuster erinnern die Forderungen der Industrie nach höheren Grenzwerten 5G-Mobilfunk Politisch grenzwertige Aussagen an die neunziger Jahre. «Damals hiess es auch, strenge Grenzwerte würden uns Milliarden kosten und uns zurück in die Steinzeit versetzen. Dabei zwingen uns tiefe Grenzwerte, intelligente Mobilfunknetze aufzubauen, statt kurzfristig Kosten zu optimieren.»

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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