Das Hirn hinters Licht führen
Mit Hilfe der Optogenetik manipulieren Forscher Hirnzellen. So können sie Hirnvorgänge entschlüsseln, aber auch Gefühle oder Wahrnehmungen steuern. Wo sind die Grenzen?
Veröffentlicht am 3. Februar 2012 - 09:34 Uhr
Eine Maus in einem Käfig schnuppert geschäftig an den Wänden und am Boden. An ihrem Kopf ist ein Kabel angebracht. Der Hirnforscher Andreas Lüthi drückt einen Schalter. Blaues Licht rast durch die Glasfasern des Kabels ins Mäusehirn. Abrupt stoppt das Tier seine Bewegungen und fällt in eine Art Schockstarre. Der Forscher wechselt die Farbe auf Gelb. Als wäre nichts gewesen, erkundet die Maus wieder den Käfig. Der blaue Lichtstrahl lässt sie erneut innehalten. Regungslos verharrt sie, als fürchte sie sich. «Mit dem Lichtstrahl kann ich das Angstzentrum an- und abschalten», erklärt Lüthi.
Der Wissenschaftler beschäftigt sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Phänomen Angst und seinen Ursachen. Nicht als Psychiater oder Psychologe, sondern als Hirnforscher am Friedrich-Miescher-Institut in Basel. Er nimmt Experimente an Tieren und isolierten Nervenzellen vor und untersucht biochemische Vorgänge im Gehirn, die Angst auslösen. Die Ergebnisse sollen helfen, die Entstehung von Angst und Panikattacken beim Menschen besser zu verstehen und deren Behandlung zu optimieren.
Was Lüthi betreibt, nennt sich Optogenetik. Die Methode kombiniert auf überraschende Weise Optik mit Gentechnik und erlaubt tiefe Einblicke ins Gehirn. Mittels kurzer Lichtimpulse werden einzelne Hirnzellen gereizt. «Indem wir sie auf Knopfdruck aktivieren oder stilllegen, können wir erstmals untersuchen, was einzelne Nervenzellen bewirken», sagt Lüthi. Damit lässt sich das Netzwerk der Milliarden von Gehirnzellen in bisher unerreichter Auflösung studieren. Der Eingriff ins Zentralnervensystem ermöglicht die Manipulation einzelner Neuronen. Das schafft Missbrauchspotential und erntet Kritik.
Die Optogenetik hat ihre Anfänge in den USA. Jahrelang suchten Hirnforscher nach einem Weg, um einzelne Nervenzellen im unversehrten Gehirn zu manipulieren. Licht schien als Medium geeignet, doch die Umsetzung gelang lange nicht. Bis schliesslich bei Algen eine Lösung gefunden wurde. Einige Arten verfügen über Eiweissmoleküle, die auf Lichtimpulse unterschiedlicher Farbe mit bestimmten chemischen Signalen reagieren. Der Psychiater und Genetiker Karl Deisseroth, der heute an der Universität Stanford in Kalifornien forscht, erkannte das Potential dieser sogenannten Opsine. Er schleuste sie in Kulturen von Nervenzellen ein und fand so einen Weg, die Zellen mit Licht zu reizen. In einer nächsten Stufe nutzte er harmlose Viren als «Fähren», mit denen er das lichtempfindliche System in das Gehirn von Tieren übertrug. Das ermöglichte ihm, über eine feine Glasfaser einzelne Neuronen zu steuern.
Im Gegensatz zu bisherigen Eingriffen ins Gehirn gilt die neue Methode als kaum belastend. Die 200 Mikrometer feinen Lichtleitern im Schädel störten die Versuchstiere nicht, sagen die Forscher (siehe oben «Gefühle auf Knopfdruck»).
Gentechnische Methoden ermöglichen es, mittels der Opsine ganz bestimmte Gehirnzellen bei der Maus zu aktivieren oder stillzulegen. Dank dieser Präzision hat sich die Optogenetik seit Deisseroths Pionierversuchen rasch durchgesetzt, 2010 kürte sie die Fachzeitschrift «Nature Methods» zur «Methode des Jahres». Rund 1000 Forscher weltweit setzen schon auf das Lichtverfahren. In der Schweiz zählt Andreas Lüthi zu den Pionieren. Zu ihnen gehört auch Christian Lüscher, der die neue Methode an der Universität Genf bei Studien über das Suchtverhalten nutzt. Er untersucht die Wirkung von Kokain auf das sogenannte Belohnungszentrum im Gehirn von Mäusen. Mittels Optogenetik konnte Lüscher das Belohnungssystem ausschalten. Darauf zeigten die Mäuse kein Suchtverhalten mehr. Der Schweizer Forscher schätzt die Präzision der Methode und die Möglichkeit, Nerven gezielt «an- und auszuschalten».
Für den Basler Hirnforscher Andreas Lüthi ist das Verfahren unverzichtbar geworden. So untersucht er damit den Mandelkern, einen schwer zugänglichen Bereich tief im Gehirn und Sitz des Angstzentrums. Er umfasst unzählige Neuronen, die bei der Entstehung von Angst involviert sind. Mit optogenetischen Versuchen kann Lüthi die Signalwege und die beteiligten Neuronen identifizieren. Diese Grundlagenforschung hat keine unmittelbaren Folgen für die Praxis. Lüthi ist aber zuversichtlich, dass seine Erkenntnisse künftig zu verbesserten Therapien führen werden, zum Beispiel bei Traumapatienten.
Auch Lüthis Kollegen erforschen neurologische Krankheiten und Störungen. Karl Deisseroth beispielsweise beschäftigt sich mit Autismus. Das komplexe Syndrom führt er aufgrund seiner Versuche mit sozial auffälligen Mäusen auf eine generelle Überreaktion des Gehirns zurück. Diese bewirke ein Ungleichgewicht zwischen angeregten und dämpfenden Neuronen. Autistische Kinder reagieren stark auf Umwelteinflüsse, weshalb sie Reize wie Augenkontakt oder Geräusche meiden, so Deisseroths Folgerung.
Bei Versuchen im Zusammenhang mit der Parkinson-Krankheit hat der Optogenetiker Erkenntnisse erlangt, die gängigen Erklärungen zuwiderlaufen. Statt einzelne degenerierende Zellen für die Bewegungsstörungen verantwortlich zu machen, sieht er die Ursache in der gestörten Kommunikation zwischen Hirnregionen. Deisseroth glaubt, dass seine Methode zum Verständnis komplexer Krankheiten und psychischer Störungen beitragen wird: «Die Psychiatrie kann von der Optogenetik lernen. Wir brauchen ein besseres Verständnis der Neuronen.»
Spätestens hier leuchten bei Kritikern die Warnlampen auf. In der raffinierten Forschungsmethode erkennen sie weitreichende Gefahren. Sorgen bereitet ihnen die Vorstellung, dass das Verhalten und die Selbstwahrnehmung eines Menschen via Lichtschalter manipuliert werden könnten. Negative Utopien sind denkbar, in der die Methode Menschen zu ferngesteuerten Robotern degradiert, die per Knopfdruck alle Hemmungen verlieren und zu gefühllosen Monstern mutieren. So mahnt etwa der Bioethiker und Molekularbiologe Christoph Rehmann-Sutter von der Universität Lübeck zur Vorsicht. Fragen betreffend Missbrauch müssten frühzeitig gestellt und Grenzen gezogen werden. Er will seine Forderung aber nicht als Votum gegen die Optogenetik verstanden wissen, denn «Risiken gibt es bei jeder neuen Technologie».
Bereits wenden Forscher die Optogenetik bei höheren Primaten an. Der US-Forscher Krishna Shenoy arbeitet in Stanford an «Hirnprothesen», die die Funktion ausgefallener Areale – zum Beispiel nach einem Hirnschlag – übernehmen. Dazu hat er Hirnausfälle bei Affen simuliert. Die Entwicklung solcher Mikroschaltkreise, die dereinst Hirnfunktionen ersetzen sollen, weckt Befürchtungen, obwohl es hier um Heilmethoden geht. Dazu kommt die Problematik des Tierversuchs. In der Schweiz sind Versuche mit Primaten nur sehr beschränkt erlaubt, in den USA werden die Richtlinien zurzeit stark verschärft.
Auch erste Anwendungen in der Humanmedizin zeichnen sich ab, etwa bei der Behandlung von Augenkrankheiten. Dank Optogenetik könnte in Zukunft die zu Blindheit führende Retinitis pigmentosa, ein vererbtes Augenleiden, geheilt werden. Dazu sollen «blinde» Sehstäbchen aktiviert werden, indem ihnen lichtempfindliche Opsine eingebaut werden. Forscher nutzen optogenetische Methoden auch zur Untersuchung von Herzen, die im Puls des Lichtrhythmus schlagen sollen. Damit erhoffen sie sich bessere Herzschrittmacher und Defibrillatoren, die aus dem Takt geratene Herzen regulieren.
Weniger weit fortgeschritten sind die Anwendungen bei neurologischen Krankheiten im menschlichen Gehirn. Obwohl die Lichtmethode bei der Erforschung des Mäusehirns ihren Durchbruch verzeichnen konnte, ist die unglaubliche Komplexität dieses Organs mit seinen 100 Milliarden Neuronen und Billionen von Schaltstellen noch immer ein Problem. «Selbst wenn wir eine einzelne Zelle auswählen und sie gezielt stimulieren, können wir Persönlichkeitsveränderungen nicht ausschliessen», sagt Rehmann-Sutter.
Denn wer kann garantieren, dass ein kleiner Impuls keinen Dominoeffekt mit unvorhersehbaren Folgen auslöst? Die Befürchtungen sind nicht aus der Luft gegriffen. Bei der Tiefenhirnstimulation hat man solche Erfahrungen gemacht. Bei dieser Behandlungsmethode wird schwer depressiven Patienten, die auf Medikamente nicht mehr ansprechen, mittels Elektroden elektrische Ladung ins Gehirn geführt. Zwar gibt es Erfolge, aber auch Berichte über unerklärliche Persönlichkeitsveränderungen, die etwa das Selbstgefühl betreffen.
«Wir sind nicht so weit, dass wir die Folgen solcher Hirneingriffe genau voraussagen können. Sie gleichen einem Schuss ins Dunkle», so Bioethiker Christoph Rehmann-Sutter.