«Seit ich einen neuen Job habe, klagt meine Frau, ich sei immer gestresst. Tatsächlich habe ich weniger Geduld mit den Kindern und oft Mühe, nach der Arbeit abzuschalten. Können Sie mir einige Tipps zum Stressabbau geben?»

Hans-Peter G.

Koni Rohner, Psychologe FSP:


Sie sprechen ein weit verbreitetes Phänomen der modernen Gesellschaft an. Jeder fühlt sich mehr oder weniger oft gestresst; viele leiden ernsthaft darunter. Allerdings ist lang nicht jeder Stress negativ im Gegenteil. Auch Verliebtheit ist ein Stress: Unser Organismus befindet sich in Aufregung. Aber niemand hält diesen Zustand für ungesund. Auch beklagt sich niemand darüber, wenn vor lauter Leidenschaft nur wenig Zeit zum Schlafen bleibt.

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Eine Fahrt auf der Achterbahn oder ein Thriller am Fernsehen liefern ebenfalls den durchaus erwünschten so genannten Eu-Stress. Ohne Herausforderungen könnten wir letztlich gar nicht leben; um funktionstüchtig zu bleiben, ist unser Körper auf sie angewiesen. Wenn der von der Schwerkraft ausgelöste Dauerstress zum Beispiel durch lange Bettlägerigkeit wegfällt, schwinden die Muskeln.

Beim negativen «Di-Stress» ist der Organismus dauernd auf Kampf und Herausforderung eingestellt. Wird dieser Zustand chronisch, dann wird der Stress ausgesprochen ungesund. Wer merkt, dass er nicht mehr entspannt einschlafen kann, dass er nach der Arbeit nicht mehr «herunterkommt», hat es vergleichsweise gut, denn er kann etwas gegen diesen Zustand unternehmen. Wer keine Symptome wahrnimmt, läuft Gefahr, eines Tages plötzlich mit dramatischen Gesundheitsproblemen konfrontiert zu sein: mit einem schmerzhaften Hexenschuss vielleicht, einem Bandscheibenvorfall, einem Nervenzusammenbruch oder einem Herzinfarkt.

Leider leben wir in einer Gesellschaft, die immer mehr Stress produziert. Der Druck auf jeden einzelnen Arbeitsplatz wächst. Zeitdruck, Angst vor Veränderungen, Wettbewerb mit Kollegen, finanzielle Sorgen all dies erzeugt Stress. Die Kluft zwischen Armen und Reichen wird immer grösser. Und wer möchte schon zu den Armen gehören!

Dem Einfluss der Arbeitnehmer auf Arbeitsanfall, Termin- und Konkurrenzdruck sind in der Regel Grenzen gesetzt; Veränderungen sind nur bedingt möglich. Es bleibt dem Einzelnen oft nichts anderes übrig, als einen möglichst guten Umgang damit zu finden sich also nicht selber noch zusätzlich unter Druck zu setzen. Wer die eigene Einstellung kritisch überprüft und krank machende Muster über Bord wirft, hat bessere Chancen, der Belastung im Beruf standzuhalten.

Am gefährlichsten ist der Perfektionismus der unbewusste Anspruch, immer siegen, immer der oder die Beste sein zu müssen. Dabei geht es auch anders. Wer auch einmal verlieren kann und sich auch dann immer noch gern hat, ist weniger stressanfällig als Leute, die immer gewinnen müssen.

Wer loslassen kann, lebt besser

Lehrreich ist auch die berühmte Diogenes-Anekdote. Alexander der Grosse soll vom Philosophen derart beeindruckt gewesen sein, dass er ihn fragte, ob er ihm einen Wunsch erfüllen könne. Diogenes, der gerade ein Sonnenbad nahm, soll geantwortet haben: «Ja. Geh mir bitte aus der Sonne!» Wer Zeit für Mussestunden findet und darauf verzichten kann, die Welt zu erobern, beugt ebenfalls dem Di-Stress vor.

Nur eine Änderung der Lebenseinstellung, des Arbeits- und des Freizeitverhaltens kann Entlastung bringen. Nur wer dem Sinn des Lebens, der Lebensqualität und menschlichen Werten einen höheren Stellenwert einräumt als gemeinhin üblich, kann dem Teufelskreis des Stresses entkommen. Wunderrezepte gibt es meiner Ansicht nach zwar keine. Trotzdem hier einige praktische Tipps.

Bewusst Zeiten der Musse einbauen. Ausspannen, Loslassen.


Die Sensibilität für die Weisheit des Körpers vergrössern: Bedürfnisse nach Ruhe, Bewegung, frischer Luft, bestimmten Nahrungsmitteln, Schlaf, Hautkontakt und Sexualität ernst nehmen.


Teamwork statt Einzelkämpfertum.


Gefühle ausdrücken statt hinunterschlucken oder verdrängen.


Fehler, Misserfolge und Scheitern als Teil der Existenz akzeptieren.


Vertrauen in sich selbst, in andere und ins Leben entwickeln.


Bei grosser Belastung oder schwierigen Konflikten Coaching, Supervision oder Psychotherapie in Anspruch nehmen.