«Jeder Patient braucht einen anderen Ansatz»
Tinnitus zu heilen ist bislang unmöglich, sagt Rahul Gupta von der Tinnitus-Klinik Chur. Selbst bei Bewältigungstherapien gebe es keine Erfolgsgarantie.
Veröffentlicht am 17. Januar 2012 - 08:14 Uhr
Beobachter: Wie wahrscheinlich ist es, dass Ohrgeräusche von allein wieder abklingen?
Rahul Gupta: Beim akuten Tinnitus liegt die Spontanheilungsquote bei über 70 Prozent. Die Geräusche verschwinden ohne Folgeschäden. Ist der Tinnitus aber chronisch, ist eine spontane Heilung die Ausnahme.
Beobachter: Ab wann gilt ein Tinnitus als chronisch?
Gupta: Wenn die Ohrgeräusche länger als drei Monate anhalten. Der akute Tinnitus sitzt im Ohr und wird durch sehr hohen Schalldruck ausgelöst. Die Sinneszellen im Innenohr können dadurch geschädigt werden. Es pfeift, rauscht, zischt oder brummt im Ohr. Der chronische Tinnitus hingegen hat sich zentralisiert. Das Geräusch entsteht im Gehirn, eine Schädigung im Ohr kann nicht mehr nachgewiesen werden.
Beobachter: Die Patienten bilden sich die Ohrgeräusche also bloss ein?
Gupta: Nein, aber sie sind zum Wahrnehmungsproblem geworden. Das Gehirn versucht, die Hörstörung auszugleichen, was die Aktivität in der Hörbahn verstärkt. Patienten nehmen das dann als Tinnitus wahr. Interessant ist, dass diese Regulierung in Gehirnregionen passiert, die mit der Gefühlswelt zu tun haben, im limbischen System zum Beispiel. Das könnte erklären, warum viele Patienten den Tinnitus stärker wahrnehmen, wenn sie Stress haben oder wenn es ihnen psychisch schlechtgeht.
Beobachter: Ist er dann lauter?
Gupta: Nein, er wird nur als lauter empfunden. Die Lautstärke eines Tinnitus liegt meist zwischen 5 und 15 Dezibel über der Hörschwelle der Betroffenen. Dennoch kann er wahnsinnig belastend sein.
Beobachter: Wann raten Sie zu einer Therapie?
Gupta: Wenn das Geräusch alle Lebensbereiche überlagert, Beruf, Familie und Hobbys darunter leiden – wenn die allgemeine Funktionsfähigkeit massiv beeinträchtigt ist.
Beobachter: Die Tinnitus-Liga warnt vor Therapieversprechen. Keine Behandlungsmethode könne für sich in Anspruch nehmen, für alle Patienten wirksam zu sein. Stimmt das?
Gupta: Ich sage den Patienten immer: In seltenen Fällen sind die Geräusche nach einer Behandlung weg, aber das ist nicht primär das Ziel. Das Ziel ist, die negative Wahrnehmung des Tinnitus umzupolen, sich an ihn zu gewöhnen, ihn im Alltag zu beherrschen und so Lebensqualität zurückzugewinnen.
Beobachter: Und wie stellt man das an?
Gupta: Ein Standardrezept dafür gibt es nicht, jeder Patient braucht einen anderen Ansatz. Und dafür muss man eine Reihe von Fachleuten zu Rate ziehen: Hörgeräteakustiker, Psychotherapeuten, Hörtherapeuten, Spezialisten für Entspannungstechniken und alternative Heilmethoden wie Akupressur. Immerhin können wir sagen, dass sich bei 70 bis 80 Prozent unserer Patienten nach vier Wochen eine deutliche Linderung einstellt. Wesentlich für den Erfolg aber ist, das Gelernte danach auch konsequent im Alltag anzuwenden.