Was ist ein Notfall?
Immer mehr Leute gehen wegen Bagatellen in den Notfall – das kostet uns Millionen. Das Editorial zur neuen Beobachter-Titelgeschichte vom stellvertretenden Chefredaktor Matthias Pflume.
Veröffentlicht am 27. Oktober 2015 - 09:20 Uhr
Was ein medizinischer Notfall ist, bestimmen zunehmend Laien. Denn immer mehr Leute gehen bei Krankheit oder Unfall nicht zuerst zum Hausarzt, sondern sie suchen direkt die Notfallstation eines Spitals auf. Dabei weiche «der Notfall aus Sicht der Patienten immer stärker von der medizinischen Beurteilung ab», klagt ein erfahrener Internist in der Titelgeschichte unter dem Titel «Ab in den Notfall!» von Peter Johannes Meier und Martin Müller.
Die Folgen: lange Wartezeiten, im schlimmsten Fall auch für echte Notfälle, die sich in der Flut der Bagatellen immer schwerer erkennen lassen. Dazu ständig steigende Kosten, denn die Behandlung in einer Notfallstation ist teurer als beim Hausarzt. Die Kosten für Notfallbehandlungen sind in den letzten 14 Jahren um 120 Prozent gestiegen, sagt die KOF, die Konjunkturforschungsstelle der ETH.
Matthias Pflume.
«Offenbar kann man Patienten nicht dazu erziehen, den Notfall nur im Notfall aufzusuchen»
Matthias Pflume
Es dürfte eine Reihe von Gründen für diese Entwicklung geben. Viele Angestellte haben laut Experten keine Zeit mehr, tagsüber zum Arzt zu gehen – oder sie nehmen sie sich nicht, warum auch immer. Auch mag der Unwille zu warten eine Rolle spielen: Man hat ein medizinisches Problem am Abend oder am Wochenende und ist nicht bereit, sich zu gedulden, bis der Hausarzt wieder erreichbar ist. Eine Anspruchshaltung, die dazu führt, dass Notfallstationen als praktische, permanente Anlaufstelle für jedes medizinische Problem wahrgenommen werden.
Vermutlich wollen auch immer mehr Leute kein Risiko eingehen und im Zweifel lieber einmal zu viel medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Schliesslich stösst man im Internet bei praktisch jedem Symptom auf eine gefährliche Krankheit, die schnelles Handeln nahelegt. Gerade Kleinkinder landen immer öfter im Notfall – was wohl auch damit zusammenhängt, dass wir nicht mehr in Grossfamilien leben, wo Grosseltern überängstliche Eltern beruhigen können.
Der Hausarzt verliert auch deshalb an Bedeutung, weil es unter Umständen gar nicht so einfach ist, überhaupt einen zu finden. So hat zum Beispiel der Verein Hausärzte Stadt Zürich rund 200 Mitglieder, aber gerade mal 33 nehmen gemäss Website noch neue Patienten an.
Der Run auf die Notfallstationen ist keine ganz neue Entwicklung – und mit einer Trendwende ist kaum zu rechnen. Offenbar kann man Patienten nicht dazu erziehen, den Notfall nur im Notfall aufzusuchen. In einzelnen Spitälern nehmen nun vorgelagerte Hausarztpraxen eine Triage vor, oder man versucht, Leidende via telefonische Beratung zu einem Hausarzt zu lotsen. Die Ärzte versuchen so, wieder selbst zu entscheiden, was ein Notfall ist.
Der neue Beobachter
Lesen Sie die vollständige Titelgeschichte «Ab in den Notfall! – Patienten stürmen wegen Wehwehchen die Notfallstationen. Das kostet uns Millionen» in der aktuellen Beobachter-Ausgabe.
Weitere Themen des Hefts: Flucht in die Schweiz – eine Mutter aus Syrien erzählt. Digitaler Nachlass – bleiben Tote für immer auf Facebook? Und: Der umkämpfte Wald – warum unsere Wälder eine Konfliktzone sind.
Der Beobachter 22/2015 erscheint am Freitag, 30. Oktober. Sie erhalten die Ausgabe am Kiosk, als E-Paper oder im Abo.
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