Behalten oder rausnehmen?
Weisheitszähne machen oft Ärger. Dennoch ist es nicht in jedem Fall ratsam, diese ziehen zu lassen.
aktualisiert am 21. Februar 2018 - 15:06 Uhr
Plötzlich lag Rolf Kummer* hellwach im Hotelbett. Ein pochender Schmerz hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. Er spürte ein Stechen im Kiefer. Eiter floss aus einer Wunde im Zahnfleisch. «Meine schlimmste Befürchtung war eingetroffen: Ausgerechnet in den Ferien machte mein Weisheitszahn Ärger», sagt der 54-Jährige. Wochen zuvor hatte sich das benachbarte Zahnfleisch immer wieder leicht entzündet. Seine Frau drängte ihn, zum Zahnarzt zu gehen. «Ich winkte ab. Weil die Entzündung abheilte und ich den Zahn nicht vorsorglich ziehen lassen wollte.»
Der Gang zum Zahnarzt ist vielen ein Graus, wie Beiträge in Internetforen zeigen. Da schreibt Laura B. von der Leidensgeschichte ihrer Oma, die sich nach der Entfernung der Weisheitszähne den Kiefer brach. Kathrin L. warnt vor Infektionen, «weil man auch in der Schweiz nie weiss, wie sauber die Werkzeuge sind».
Die Entscheidung, wann ein Weisheitszahn gezogen werden muss, ist heikel. Besonders dann, wenn der Patient keine Beschwerden hat. Ist es sinnvoll, den Weisheitszahn vorsorglich zu entfernen?
Diese Frage wird in Fachkreisen kontrovers diskutiert, denn es kommt auf den Einzelfall an. Fest steht, dass die Weisheitszähne gezogen werden müssen, wenn bestimmte Anhaltspunkte gegeben sind. Etwa Schmerzen, die in Zusammenhang mit dem Zahn stehen. Oder eine chronische Infektion. Sie kann entstehen, wenn die Weisheitszähne oder «Achter», wie sie aufgrund ihrer Position genannt werden, nur teilweise in die Mundhöhle durchbrechen. Karies ist ein weiterer Grund, genauso wie Zysten – mit Flüssigkeit gefüllte Hohlräume, die sich im Kieferknochen unbemerkt ausdehnen und ihn so zerstören können. Keine schöne Sache.
Schön war es auch bei Rolf Kummer nicht. Nachdem er Jahre zuvor seine unteren Weisheitszähne hatte entfernen lassen, stand nun einer der oberen schief, weil er unten keinen Gegenpart mehr hatte. Dadurch bildete sich zwischen dem Weisheitszahn und dem Nachbarzahn ein Hohlraum. Bei jedem Essen blieben Reste hängen. Keine Zahnbürste der Welt kam dagegen effektiv an. Das Resultat: Eine starke Entzündung und Karies, die auch den Nachbarzahn in Mitleidenschaft zog. «Ich musste notfallmässig in Italien zu einem Zahnarzt.»
Viele Zahnärzte kennen solche Fälle. Ein Drittel aller Weisheitszahnpatienten sind Notfälle. Viele Patienten gehen erst bei akuten Schmerzen zum Zahnarzt, wenn die gängigen Schmerzmittel versagen. Dennoch gilt nicht, Weisheitszähne generell zu entfernen, auch bei kieferorthopädischen Behandlungen, da eine Entfernung individuell geklärt werden muss. Doch oft ziehen Kieferorthopäden die Weisheitszähne vor Beginn der Behandlung – in der Annahme, diese begünstigten die Verschiebung der Zähne nach der kieferorthopädischen Korrektur. Aber: Dieses Argument ist wissenschaftlich nicht belegt.
Die meisten Patienten haben das Problem, dass die durchbrechenden Weisheitszähne keinen Platz haben. Das war nicht immer so. Unsere steinzeitlichen Vorfahren hatten breitere Kiefer. Sie mussten viel mehr kauen: Getreide, Korn oder faserreiche, grosse Stücke Fleisch. Das regte laut Evolutionsbiologen das Kieferwachstum an und schaffte genug Platz für die Zähne.
Der Steinzeitmensch entwickelte sich, die Essgewohnheiten änderten sich. Die Speisen wurde immer mehr zerkleinert und zerkocht – bis zu den heutigen Smoothies, Suppen und weichen Burgern. Unsere Zähne haben viel weniger zu beissen. So ist unser Gesicht schmaler, der Kiefer spitzer geworden – und der Mund zu klein für die Weisheitszähne. Sie schaffen sich in der hintersten Ecke irgendwie Platz. Manche brechen gar nicht erst durch und schlummern im Knochen vor sich hin.
Laut der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft gehört das Ziehen von Weisheitszähnen bei Jugendlichen und Erwachsenen bis 25 Jahre in der Zahnmedizin zu den häufigsten Eingriffen. Nicht ohne Grund:Bei jungen Patienten sind die Wurzeln noch nicht vollständig ausgebildet. Das ist ein grosser Vorteil. Später können sich die Wurzeln im Unterkiefer um den Nerv schlingen, der die Unterlippe mit Gefühl versorgt.
Bei der Entfernung des Zahns ist das Risiko höher, diesen sowie den benachbarten Zungennerv zu verletzen. Die Folge: Lippe und Zunge können einseitig für immer taub werden. Zu weiteren Risiken gehören schwere Infektionen. Und vor allem bei älteren Patienten (besonders bei Osteoporose-Kranken) besteht zudem das Risiko eines Kieferbruchs. Solche Risiken versuchen Zahnmediziner etwa mit Hilfe von Röntgenaufnahmen zu verhindern. Seit wenigen Jahren greifen sie auch auf die digitale Volumentomografie (DVT) zurück – eine 3-D-Aufnahme des Kiefers. Diese erleichtert die Beurteilung gerade bei schwierigen Fällen erheblich.
So bleiben die Weisheitszähne ruhig
In vielen Fällen kann man schwerwiegenden Beschwerden wegen Weisheitszähnen vorbeugen.
Das raten die Spezialisten:
- Regel Nummer eins: Eine gute Mundhygiene beugt Infektionen um vollständig durchgebrochene Weisheitszähne vor.
- Wer einen längeren Aufenthalt im Ausland plant, sollte Schmerzen in Zusammenhang mit dem Weisheitszahn vorher abklären.
- Um sich körperlich nicht zu überfordern, sollte man bei Bedarf nicht alle vier Weisheitszähne zugleich entfernen.
- Regelmässige Kontrolle beim Zahnarzt: Wer nur alle zehn Jahre vorbeischaut, erlebt oft eine böse Überraschung mit teuren Folgen.
- Eine fachliche Zweitmeinung kann die Entscheidung für oder gegen eine Operation erleichtern.
Bereits 2010 stellte die Eidgenössische Kommission für Strahlenschutz und Überwachung der Radioaktivität einen Trend zur digitalen Volumentomografie fest. Billig ist das nicht. Patienten zahlen 350 bis 750 Franken für die 3-D-Aufnahmen – je nachdem, ob sie diese bei einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung oder einer privaten Klinik oder Praxis anfertigen lassen. Die wenigsten Krankenkassen sind jedoch gewillt, die Kosten zu übernehmen. «Gerade Privatkliniken machen eher aus rein wirtschaftlichen Gründen eine DVT-Aufnahme, auch wenn diese aus medizinischer Sicht nicht zwingend nötig wäre», sagt ein Zahnmediziner, der nicht genannt werden will.
Die Vorstellung des gierigen Mediziners, der unnötige Behandlungen empfiehlt, ist in den Köpfen von so manchen Betroffenen verankert. Dafür gebe es jedoch in Bezug auf Weisheitszähne kaum Grund, betont der Zahnchirurg: «Ich weiss von Zahnärzten, die sich nicht darum reissen, weil es nicht so leicht ist, wie es aussieht. Wenn sie dann noch zu lange für eine Operation brauchen, verdienen sie zu wenig daran.»
*Name geändert