Natürlich heisst noch lange nicht unbedenklich
Keine Wirkung ohne Nebenwirkung: Das gilt auch für vermeintlich harmlose Naturheilmittel wie Johanniskraut oder Baldrian. Besondere Vorsicht ist vor Operationen geboten. Dann ist es oft nötig, frühzeitig die Heilmittel abzusetzen.
Veröffentlicht am 23. Oktober 2001 - 00:00 Uhr
Ein unglücklicher Zufall brachte Frank Ruschitzka, Herzspezialist am Zürcher Universitätsspital, auf die Spur. Innerhalb kürzester Zeit war er mit zwei Empfängern von Spenderherzen beschäftigt, deren neues Organ starke Abstossreaktionen zeigte: Die Konzentration des Ciclosporin, das die Immunabwehr unterdrückt, war dramatisch gesunken, es bestand Lebensgefahr. Im Gespräch mit den Patienten stellte sich heraus, dass beide ein Johanniskrautpräparat gegen ihre depressiven Verstimmungen eingenommen hatten. Erst als sie dieses Naturheilmittel (in der Fachsprache Phytopharmaka) absetzten, normalisierte sich der Ciclosporin-Pegel wieder.
Der Zürcher Herzspezialist hatte diese Erkenntnis im «Lancet» veröffentlicht, einer weltweit führenden Fachzeitschrift für Medizin. In derselben Ausgabe war über eine weitere gefährliche Wechselwirkung mit Johanniskraut zu lesen. Forscher des National Institute of Health in den USA hatten in Versuchen nachgewiesen, dass sich das Mittel gegen leichte und mittelschwere Depressionen sehr schlecht mit dem Aidsmedikament «Indavir» verträgt.
«Es ist noch zu wenig im Bewusstsein, dass auch Phytopharmaka Arzneimittel sind, die mit einer gewissen Sorgfalt konsumiert werden sollten», warnt Professor Reinhard Saller, Leiter der Abteilung Naturheilkunde am Zürcher Universitätsspital. Diese Erfahrung teilt auch Markus Fritz von der Schweizerischen Medikamenten-Informationsstelle in Basel: «Die Konsumenten gehen noch immer von der falschen Annahme aus, was von der Natur komme, schade grundsätzlich nicht.»
Dies führt vielfach dazu, dass beim Gespräch zwischen Patient und Arzt die Einnahme von Phytopharmaka unerwähnt bleibt. Die Patienten sagen nichts, weil das pflanzliche Mittel vermeintlich nichts mit der Krankheit zu tun hat. Anderseits setzt sich bei Ärzten die Erkenntnis erst langsam durch, die Patienten nicht nur nach synthetischen Medikamenten, sondern auch gezielt nach Naturheilmitteln zu fragen.
Diese Kommunikationslücken können schwerwiegende Folgen haben besonders wenn bei einer Therapie oder Operation starke chemische Präparate verabreicht werden. Zwar haben Phytopharmaka im Vergleich zu chemischen Präparaten meist weniger Nebenwirkungen. In Kombination mit synthetischen Medikamenten können sie aber massive, bisweilen lebensbedrohliche Wechselwirkungen auslösen.
Beim Johanniskraut, dem bekanntesten und umsatzstärksten Naturheilmittel, wird die Liste solcher Wechselwirkungen immer länger. Jürgen Drewe, stellvertretender Leiter der Abteilung klinische Pharmakologie und Toxikologie am Kantonsspital Basel, warnt zum Beispiel davor, Johanniskrautpräparate gleichzeitig mit der Antibabypille einzunehmen. In Einzelfällen sei es zu Zwischenblutungen gekommen. Vorsicht ist aber auch bei anderen Präparaten angebracht. Narkoseärzte aus Chicago haben eine Liste gängiger Naturheilmittel veröffentlicht, die bei Operationen zu Komplikationen führen können.
Professor Reinhard Saller rät grundsätzlich von Naturheilmitteln ab, die nicht qualitätsgeprüft sind und Rückstände von Schwermetallen, Insektiziden oder chemischen Wirkstoffen enthalten könnten. Auch wenn «erstaunlich wenig Probleme» auftauchen, will er aber betont haben, dass «Patienten auch bei Phytopharmaka immer daran denken, dass sie ein Medikament einnehmen».