Beobachter: Was tun Sie persönlichfür Ihr Glück?
Antje Sabine Nägeli-Schrade:
Stille und Meditation sind für mich etwas sehr Wichtiges. Ich nehme mir immer wieder Zeit dafür, damit mich nicht alles überflutet. Ich versuche auch, meine Sinne zu schärfen, um intensiver und bewusster zu erleben. Als meine Kinder noch klein waren, habe ich von ihnen gelernt, die Freude an den kleinen Dingen zu üben: an einem Schneckenhaus, an einer Feder, an einem bunten Stein. Diese Fähigkeit bereichert mich sehr.

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Beobachter: Kann Glück also geübt werden?
Nägeli-Schrade:
Man kann natürlich keinem Menschen ein Rezept liefern. Es findet ja auch nicht jeder auf gleiche Weise sein Glück. Es ist wichtig, dass jeder für sich selber spürt, was ihn von innen her bereichert. In der Stille kann man entdecken, was einen berührt. Man lernt, das wahre Glück von jenem zu unterscheiden, das einem von aussen aufgedrängt worden ist. Dieses Pseudoglück hat nichts mit dem zu tun, was ein Mensch wirklich braucht.

Beobachter: Ist der Mensch so leicht zu täuschen?
Nägeli-Schrade:
Bei einer Umfrage würden wohl viele sagen, Glück sei für sie, körperlich und geistig fit zu sein, einen gut bezahlten Job, eine Familie, ein eigenes Haus und einen guten Lebensstandard zu haben. Wäre dies wirklich der Inbegriff von Glück, müssten wir hier in der Schweiz eigentlich in einem Land von Überglücklichen leben. Das aber entspricht überhaupt nicht meiner Erfahrung. Unsere Gesellschaft hetzt vielmehr von einem «Glück» zum andern. Satt werden wir nie; es fehlt immer wieder etwas, weil die wirklichen Bedürfnisse nicht erfüllt werden.

Beobachter: Es gibt aber auch viele Bedürfnisse, die künstlich geweckt werden. Spielt da nicht die Werbung mit ihren Glücksversprechen eine wesentliche Rolle?
Nägeli-Schrade:
Ganz sicher. Was in der Werbung als erstrebenswert gezeigt wird, ist ein Feuerwerksglück, das schnell verpufft – Fast Food ohne wirklichen Nährwert.

Beobachter: Stehen wir quasi unserem eigenen Glück im Weg?
Nägeli-Schrade:
Viele Menschen fixieren sich auf bestimmte Glücksvorstellungen. Wenn diese nicht eintreffen, sind sie sehr enttäuscht. Es gibt Menschen, die ihr Glück an die Erfüllung einiger grosser Lebenserwartungen knüpfen und damit die Offenheit für eine Vielzahl kleiner Glücksmöglichkeiten verlieren. Wir vergessen so oft, dass das wirkliche Glück überhaupt nichts Äusserliches ist, sondern etwas Inneres: das Berührtwerden von etwas Schönem zum Beispiel oder die Nähe zu einem geliebten Menschen, die Versöhnung mit dem eigenen Schicksal. Glück – das scheint mir etwas ganz Entscheidendes zu sein – lässt sich dabei niemals direkt ansteuern.

Beobachter: Genau dies geben uns aber Hunderte von Ratgeberbüchern zu verstehen.
Nägeli-Schrade:
In unserer Gesellschaft liegt vor allem eines im Argen: Die Kräfte des Verstands werden extrem gefördert, die Gemütskräfte hingegen sind stark verschüttet. Glück erfahren zu können hängt jedoch sehr stark mit unserer emotionalen Begabung zusammen. Je fähiger ein Mensch ist, seine Emotionen zu spüren und auszudrücken, desto eher weiss er auch, was glücklich sein bedeutet, und er braucht keine Rezepte. Wenn die Gemütskräfte aber verkümmert sind, helfen auch tausend Ratschläge nichts. Heute besteht fast ein Zwang, ständig aufgestellt zu sein und positiv zu denken. Nachdenklichkeit, Schmerz und Trauer werden an den Rand gedrängt. Diese erzwungene Fröhlichkeit hat mit Glück nichts zu tun.

Beobachter: Erzwungene Fröhlichkeit macht uns wohl nur noch trauriger. Stellen sich die Menschen wieder vermehrt Fragen nach dem Wesentlichen im Leben?
Nägeli-Schrade:
Die Nachdenklichkeit, die um die Jahrtausendwende zu spüren war, ist leider wieder versickert. Ich beobachte dennoch eine Tendenz, dass vermehrt nach dem Sinn des Lebens gefragt wird.

Beobachter: Ob die Terroranschläge in den USA ein Anstoss zum Umdenken sind?
Nägeli-Schrade: Es wäre zu hoffen. Das bedeutete freilich, dass wir im Westen bereit wären, unseren veräusserlichten Lebensstil in Frage zu stellen und nach den tieferen Ursachen solcher Ereignisse zu fragen. Kurzfristig geschieht das bestimmt. Die Frage aber ist, ob die Erschütterung genug Kraft hat, zu einer wirklichen Veränderung beizutragen. Wandlung vollzieht sich nur in kleinen Schritten. Erst in den nächsten Jahren wird sich zeigen, ob bei Menschen mehr Bereitschaft zurückgeblieben ist, sich auf wesentliche Themen einzulassen.

Beobachter: Oft hört man den Ratschlag: «Lerne aus der Krise.» Wie wichtig ist die Erfahrung des eigenen Unglücks für das Glück?
Nägeli-Schrade:
Das Unglück kann durchaus einen neuen Weg weisen. Ich begegne zum Beispiel krebskranken Menschen, deren Krankheit zu einer entscheidenden Lebenswende geführt hat, zu intensiverem Leben und damit zu einer neuen Form des Glücks. Keinesfalls aber dürfen wir daraus eine Regel ableiten, mit der Leidvolles gerechtfertigt werden könnte. Stellen Sie sich vor, man würde den Angehörigen der Opfer von Zug sagen, dieses Unglück sei letztlich eine Vorbedingung für neues Glück – wenn sie nur richtig damit umgingen. Das wäre unmenschlich und zynisch.

Beobachter: Viele Menschen sind der Auffassung, das Glück stehe ihnen nicht zu.
Nägeli-Schrade:
Wenn jedem Menschen ein Glücksverlangen angeboren ist, und davon gehe ich aus, dann muss er auch Glück empfangen dürfen. Hinter der Auffassung, kein Glück zu verdienen, kann sich aber noch etwas anderes verbergen als die Vorstellung, zu wenig dafür getan zu haben. Wer eine leidvolle Kindheitsgeschichte hatte, ist immer gefährdet, sein Unglück zu wiederholen, weil Menschen dazu neigen, die vertrauten Muster im Leben zu suchen. Solche Menschen müssen oft mit therapeutischer Hilfe lernen, dass ihr Glücksverlangen berechtigt ist und dass es Auswege gibt.

Beobachter: Kann Psychotherapie dem Menschen helfen, glücklicher zu leben?
Nägeli-Schrade:
Eine gute Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen setzt voraus, dass man zu sich selber eine Beziehung hat. Doch viele Menschen leben völlig beziehungslos zu sich und wissen gar nicht, wer sie sind. Hier versucht die Therapie, ihnen zu helfen, bevor sie wieder eine Brücke zu anderen schlagen können. Glück hat ganz viel mit Beziehung zu tun – nicht nur zu anderen Menschen, sondern auch zur Natur oder zur Musik. Und Glück ist immer auch Sinnfindung; die Entdeckung, dass ich eine Aufgabe erfülle in diesem Leben – eine Aufgabe, die ich mir selbst gestellt habe und nicht andere. Wer den Sinn gefunden hat in seinem Dasein, hat ein wichtiges Instrument zum Glücklichsein. Dieser Mensch weiss: «Es ist gut, dass es mich gibt.»

Beobachter: Welche Rolle spielt der Glaube für das Glück des Menschen?
Nägeli-Schrade:
Ich möchte unterscheiden zwischen der Kirche mit ihren Dogmen und der persönlichen Spiritualität. Die Spiritualität wird für das Glück immer wichtig sein. Die Kirche hat das Glücksbedürfnis und die Gefühle der Menschen nicht immer sehr ernst genommen. Das Dogma lautete sehr lange: Vogel friss oder stirb. Heute beginnt sich in dieser Hinsicht etwas zu ändern.

Beobachter: In der Bibel heisst es: «Glücklich sind die Armen.» Ist es wirklich so, dass das Streben nach Reichtum hinderlich ist für das Glück?
Nägeli-Schrade:
Der französische Dichter Antoine de Saint-Exupéry sagte: «Wir können nicht leben von Kühlschränken und Kreuzworträtseln.» Den tieferen Bedürfnissen trägt der Besitz allein keine Rechnung. Es kommt darauf an, welchen Stellenwert der Besitz einnimmt. Er kann zum Mittelpunkt des Lebens werden – und dann wird er fragwürdig. Man kann aber nicht behaupten, Reichtum verhindere das Glück. Gewisse materielle Lebensgrundlagen sind unabdingbar fürs Glück. Man muss die Hände, den Kopf frei haben, um die Sehnsucht nach Glück überhaupt erst wahrzunehmen. Ganz abgesehen davon: Reich ist ein Mensch mit einem lebendigen Innenleben. Wer sich nur an den Verstand klammert, wird arm.