Frage von Andreas K.: «Vor zwei Jahren überlebte ich mit viel Glück einen schweren Unfall. Obwohl ich wieder arbeiten kann, fühle ich mich unruhig und erschöpft und schlafe schlecht. Mein Umfeld ist ratlos und findet, ich sei undankbar.»

Antwort von Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin:

Wenn Sie ein Bein verloren hätten, würde niemand an Ihrer Verletzung zweifeln. Man würde Sie nicht auffordern, nun mal langsam aufzustehen und loszulaufen. Wenn Sie ein Bein verloren hätten, wäre Ihre Verletzung sichtbar, eindeutig und anerkannt.

Partnerinhalte
 
 
 
 

Nun sind Sie aber an anderer Stelle versehrt worden. Seelische Traumata werden nach wie vor eher übersehen, ihre Folgen unterschätzt. Ein Trauma, wie Sie es schildern, kann noch Jahre nach dem Ereignis Leiden verursachen. Man nennt das eine posttraumatische Belastungsstörung.

Was ist ein Trauma? Der Begriff kommt aus dem Griechischen und bedeutet Verletzung. Wenn Leben oder Integrität bedroht ist, veranlasst der älteste Teil des Gehirns (das sogenannte Reptiliengehirn) innerhalb kürzester Zeit, dass extrem viel Energie für Flucht oder Kampf zur Verfügung gestellt wird. Falls weder das eine noch das andere möglich ist, überwiegt das Gefühl von Hilflosigkeit. Die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten versagen, man fühlt sich ausgeliefert – und erstarrt. Die bereitgestellte Erregung kann nicht abgeführt werden, der Körper fährt nicht in den Normalzustand zurück.

Das Gefühl von Sicherheit wiedererlangen

Angstgefühle, Flashbacks, Schreckhaftigkeit und Gefühle von Entfremdung können die Folge sein. Sie sind kein Zeichen von Krankheit oder Labilität, sondern Teil einer gesunden Reaktion auf ein traumatisches Erlebnis.

Nicht bei allen führt dieser Mechanismus langfristig zu einer posttraumatischen Störung. Eine sichere, tragende Umgebung, Menschen, die unterstützen und bei denen alle auftauchenden Gefühle Platz haben, können helfen. Wenn es ohne Zeitdruck gelingt, wieder ein Gefühl von Sicherheit zu erlangen, klingen die Symptome nach ein paar Wochen ab.

Bei etwa einem Drittel der Betroffenen löst sich der traumatische Stress jedoch nicht ganz auf. Die Belastungsreaktionen werden chronisch und noch lange Zeit immer wieder durch bestimmte Reize aktiviert. Hier kommt es häufig zu Missverständnissen. Man übersieht den Zusammenhang von Anpassungsstörungen mit einem früheren Trauma. Es entstehen Ungeduld und das Gefühl, der Betroffene lasse sich gehen, gäbe sich keine Mühe, sei nicht motiviert. Das Umfeld interpretiert die verschiedenen Auffälligkeiten eher als «Charakterschwäche». Man macht Vorhaltungen und erhöht den moralischen Druck – meist ohne die erwünschte Wirkung zu erzielen. Nebenwirkung eines solchen Umgangs ist die Verschlechterung der psychischen und der körperlichen Befindlichkeit des traumatisierten Menschen.

Wie lässt sich ein Trauma behandeln?

So weiss man mittlerweile, dass Kinder, die in einem instabilen und traumatisierenden Beziehungsumfeld aufwachsen (zum Beispiel bei gewalttätigen oder suchtkranken Eltern), als Jugendliche und Erwachsene Probleme damit haben können, ihren Alltag zu organisieren, pünktlich und verbindlich zu sein. Sie haben in ihrer Entwicklung nicht lernen können, dass B verlässlich auf A folgt. Immer wieder wurden sie konfrontiert mit unerwarteten und verletzenden Reaktionen naher Bezugspersonen.

Jahre später ist der Zugang zu den Ursachen ihrer Schwierigkeiten oft verstellt. Wo Therapie und Verständnis eine echte Chance auf Veränderung bieten könnten, dominieren leider allzu oft Vorwürfe und Selbstvorwürfe.

Was also tun bei Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung?

Suchen Sie einen auf Traumatisierung spezialisierten Therapeuten auf und klären Sie ab, ob Ihre Beschwerden mit einem oder mehreren einschneidenden Erlebnissen in Zusammenhang stehen. Eine therapeutische Begleitung kann auch nach Jahren noch deutliche Entlastung bringen.

Buchtipps

  • Peter Levine: «Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt»; Verlag Kösel, 2011, 448 Seiten, CHF 42.90

  • Thomas Ihde-Scholl: «Ganz normal anders. Alles über psychische Krankheiten, Behandlungsmöglichkeiten und Hilfsangebote»; 2013, 368 Seiten, CHF 38.– (für Beobachter-Mitglieder: CHF 29.90); Jetzt bestellen