Interview: Ein Psychotherapeut über den Wert von Prognosen
Beobachter: Herr Rutishauser, schauen Sie «Meteo» nach der «Tagesschau»?
Bruno Rutishauser: Ja, nicht mit wahnsinnigem Interesse, aber ich schaue es.
Beobachter: Dann glauben Sie an Voraussagen?
Rutishauser: Das ist ein unzulässiger Schluss. Meteo ist eine Voraussage, bei der ein grosser Teil aus wissenschaftlich gesicherten Daten besteht, also eine Berechnung. Wenn sich ein Hochdruckgebiet von Westen nähert, ist es keine Kunst zu sagen: Gelegentlich gibt es Sonne.
Beobachter: Wie steht es bei der Börse? Stützen Sie sich da auf Vorhersagen?
Rutishauser: Anfang September stand ich mit ein paar Sachen recht gut da und dachte, so werde es friedlich in den Herbst hinein gehen. Ich habe nicht vorausgesehen, was für eine Katastrophe bevorstand: Bankfonds fielen um 30 Prozent. Die Börse ist ein gutes Beispiel für Prognosen, weil vitale Interessen tangiert sind. Was von September bis November passiert ist, hätte man eigentlich voraussehen können. Doch die subjektive Befindlichkeit war so, dass man drohende Anzeichen nicht wahrhaben wollte. Das heisst: Die Stimmungslage spielt eine grosse Rolle.
Beobachter: Warum haben Menschen das Bedürfnis nach Voraussagen?
Rutishauser: Weil das Leben eine Bewegung nach vorn macht. Es ist in der Zukunft zu bewältigen, nicht in der Vergangenheit. Nehmen Sie den Tod, der uns allen bevorsteht. Seit 10000 Jahren wird über das, was danach kommt, spekuliert. Wir können uns nicht vorstellen, dass mit dem Tod alles zu Ende ist. Deshalb interessiert uns brennend, was danach kommt. Heute morgen habe ich den Fernseher eingeschaltet und mein Horoskop angeschaut. Ich bin Skorpion und hatte fünf Plus!
Beobachter: Sie gehen spielerisch mit Zukunftsdeutungen um. Andere sind geradezu süchtig nach Horoskopen. Welches sind die Triebfedern dieser Sucht?
Rutishauser: Bei der Börse ist es die Gewinnsucht. Je höher die Gier und die Angst steigen, desto stärker ist die Neigung, Prognosen sklavenhaft zu folgen. Je schwächer diese Gefühle sind, desto souveräner verhalten wir uns gegenüber Voraussagen. Auf dem Gebiet der Weltuntergangs-Prophetien gibt es diese Hörigkeit stark.
Beobachter: Was sind das für Leute, die ohne Prognosen nicht leben können?
Rutishauser: Es ist einerseits eine Frage des Lebensstandards. Wer mittellos ist, hat eine Tendenz, solchen Prognosen zu vertrauen. Arme Schichten sind deshalb hochgradig führbar. Das gleiche gilt für den seelisch-geistigen Bereich: Wer keine eigene Heimat oder Festigkeit besitzt, ist ebenfalls anfälliger.
Beobachter: Welche Voraussagen sind nützlich, welche schädlich?
Rutishauser: Es gibt Voraussagen, die das innere Gefühl treffen: Jemand formuliert etwas, das in einem drin steckt, aber dessen man sich noch nicht bewusst ist. Diese Prophetie wirkt positiv: Sie ist ein Anstoss, um der eigenen Ahnung besser zu vertrauen.
Beobachter: Und die schlechte Prophetie?
Rutishauser: Das genaue Gegenteil: Statt das eigene Gefühl kritisch zu überprüfen, geht man zum nächsten Guru und übernimmt, was er sagt. Das ist schädlich, weil es eine Selbstentfremdung darstellt.
Beobachter: Sind Sie als Therapeut ebenfalls mit Prognosen konfrontiert?
Rutishauser: Ja, dauernd. Dazu ein spezielles Beispiel von einer Frau, die vor zwölf Jahren zu mir in die Praxis kam. Ihr Problem: Sie stehe zwischen zwei Männern und wisse nicht, welchen sie wählen solle. Ich forderte sie auf, mir über beide zu erzählen. Aus der Art, wie sie erzählte, wurde eigentlich schon klar, welchen sie selber wollte. Ich hörte mir das an, stellte einige Fragen. Am Schluss des Gesprächs sagte ich: Aufgrund des Gesagten müsse sie den und den wählen. Da war sie völlig erleichtert und sagte, das habe sie immer gedacht. Aus meiner Sicht war es eine unverzeihliche Prophetie, die eines Psychotherapeuten unwürdig ist. Aber der Witz war: Ich formulierte nur das, was sie selbst in 1000 Andeutungen ausstrahlte.
Beobachter: Nimmt denn das Bedürfnis der Menschen nach Horoskopen zu?
Rutishauser: Eindeutig. Das Horoskop kann vernünftig angewandt tatsächlich eine Hilfe sein bei der Zukunftsbewältigung.
Beobachter: Wie schützt man sich am besten vor falschen Propheten?
Rutishauser: Wenn ein indianischer Medizinmann sich an seiner Heilkunst bereichert, ist er nichts wert. Das Gleiche gilt auch hier: Wenn jemand in der Schweiz erzählt, er habe besondere Fähigkeiten, und dazu einen hohen Preis verlangt, ist er ein Dilettant oder ein Betrüger.
Beobachter: Was raten Sie bei Voraussagen?
Rutishauser: Vorhersagen sind etwas Natürliches. Mit dem gesunden Menschenverstand erkennt man rasch, was Scharlatanerie, was Mumpitz oder was sinnvoll ist. Wenn ich mir nach dem Horoskop von heute morgen sagen würde: «Jetzt geht es hinauf mit meinem Finanzhaushalt», wäre das dummes Zeug. Aber wenn es meine Verfassung verändert und mir erlaubt, einige bessere Überlegungen anzustellen, ist es nützlich. Doch zu sagen, am 28. August 2001 gehe die Welt unter, ist völliger Quatsch.