«Bin ich übertrieben gutmütig?»
Frage: Immer wenn in unserem Arbeitsteam Not ist, springe ich ein und arbeite noch etwas länger oder übernehme unangenehme Aufgaben. Langsam habe ich das satt. Bin ich zu gutmütig?
Veröffentlicht am 28. Dezember 2006 - 15:28 Uhr
Ich fürchte ja. Wahrscheinlich haben sich Ihre Arbeitskollegen daran gewöhnt, dass Sie in der Regel für alle die Kohlen aus dem Feuer holen. Das ist bequem. Wieso sollte also jemand ausser Ihnen das ändern wollen? Sie können das allerdings, wenn Sie lernen, sich zu wehren und klar und deutlich gelegentlich Nein zu sagen.
Der grosse Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) hat gefordert, man solle sich gegenüber andern immer in der Weise verhalten, wie man möchte, dass die andern auch mit einem selbst umgehen. Das ist zwar eine schöne, vernünftige Idee, in vertrautem Kreise sicher angebracht, aber im modernen Berufsleben eine untaugliche Strategie. Zwar sind Menschen nicht nur egoistisch, sondern auch sozial, aber der enorme und ständig zunehmende Druck der Wettbewerbsgesellschaft reduziert die meisten von uns auf Durchsetzung und Nutzenmaximierung. Harmoniesüchtige und Aggressionsgehemmte haben da keine Chance. Sie werden ausgenützt, weggedrängt oder von Konkurrenten überflügelt.
Positive Aggression ist nachhaltig
Der deutsche Pädagogikprofessor Jens Weidner hat eine Anleitung geschrieben, wie man sich im harten Berufsalltag behaupten kann (siehe weitere Infos). Er geht davon aus, dass auch die Friedliebendsten unter uns ein Aggressionspotenzial besitzen, das sie konstruktiv einsetzen können. Es gehört genauso zur Grundausrüstung des Menschen wie seine Liebes- und Kooperationsfähigkeit. Es dient der Selbsterhaltung in einer nicht immer freundlichen Umwelt.
Allerdings gibt es ungünstige Formen des Umgangs mit den eigenen Aggressionen:
- Spontane unkontrollierte Ausbrüche schaden mehr, als sie nützen. Man sagt Dinge, die man später bereut.
- Rache versucht, vergangene Angriffe unwirksam zu machen. Das kann nicht funktionieren, weil die Vergangenheit vorbei ist.
- Die Wut hinunterzuschlucken ist ungesund, führt zu psychosomatischen Störungen und schwächt das Selbstbewusstsein.
Man kann Aggressionen aber «sublimieren», also in sozial akzeptable Kanäle leiten. So lässt sich das Kraftwerk in unserer Seele nutzen. Solche positive Aggression ist nachhaltig: Sie hat nicht nur das eigene, sondern auch das Wohl der Kollegen und des Betriebs im Auge. Sie beruht auf einem eher skeptischen Menschenbild und lässt einen auf der Hut vor Personen sein, die einem schaden wollen. Sie ist aber massvoll und bezweckt nicht die Vernichtung des Gegners. Sie gibt einem den Mut, Auseinandersetzungen nicht auszuweichen, und die Standfestigkeit, eigene Interessen durchzubringen, wenn nötig Nein zu sagen oder sogar mal kontrolliert zu explodieren. Dann wird Nettigkeit und Hilfsbereitschaft nicht mehr für Schwäche gehalten.
Weitere Infos
Buchtipp: Jens Weidner; «Die Peperoni-Strategie. So setzen Sie Ihre natürliche Aggression konstruktiv ein»; Campus-Verlag, 2005, 200 Seiten, CHF 34.90