Schwamm drüber
Meine erste Ehe war geprägt von Psychoterror und Demütigungen. Obwohl das nun 35 Jahre zurückliegt, leide ich noch immer darunter. Bin ich mit 75 zu alt, um dieses Trauma zu verarbeiten? Sarah L.
Veröffentlicht am 3. März 2004 - 08:42 Uhr
Für die Heilung und die Entwicklung der Seele ist es nie zu spät. Bekannt ist aber auch, dass schwere Erlebnisse ein ganzes Leben lang belasten können. Man spricht in diesen Fällen von posttraumatischen Störungen. Das können seelische Blockaden, Schlafbeschwerden, wiederkehrende Angstträume oder psychosomatische Reaktionen sein.
Zwar sorgt ein Schutzmechanismus dafür, dass wir Schmerzhaftes sofort verdrängen, um wieder handlungsfähig zu sein. Auf lange Sicht aber hilft das nicht. Der Effekt lässt sich mit einer «Schiefheilung» bei einem Beinbruch vergleichen: Der Knochen ist zwar zusammengewachsen und der Mensch wieder gehfähig. Nur geht man künftig humpelnd und meist mit Schmerzen durchs Leben.
Die verdrängten Gefühle ins Bewusstsein zurückholen
Es hilft zu wissen, wie negative Erlebnisse gelöscht werden können, um zu verstehen, was wirkliche Verarbeitung bedeutet. Die humanistische wie auch die Tiefenpsychologie gehen davon aus, dass das nochmalige Durchleben der traumatischen Situation in einer sicheren, verständnisvollen Umgebung die Belastung am effektivsten auflöst.
Ein wichtiger Faktor dabei ist das Mitteilen. Es kann schon sehr erleichternd sein, das Erlebte aufzuschreiben oder mehrmals zu erzählen. Ausreichend ist dies allerdings nicht. Vielmehr ist es auch nötig, die verdrängten Gefühle ins Bewusstsein zurückzuholen und die schmerzhafte, Angst auslösende Situation nochmals mit Leib und Seele zu erfahren. Dadurch lösen sich die Blockaden, und die Seele ist wieder fähig, ein neues Gleichgewicht zu finden.
Für diesen Weg bietet sich eine Psychotherapie an, in der die alten Geschichten neu aufgerollt werden, um zu verzeihen und mit der Vergangenheit Frieden zu schliessen. Dabei soll keine Decke des Wohlwollens über das Geschehene gebreitet werden, sondern es gilt, Wut, Enttäuschung, Verzweiflung, Trauer und alles andere Belastende nochmals zu spüren. Gleichzeitig ist zu akzeptieren, dass sich die Vergangenheit nicht ändern lässt: Es geht nicht darum, etwas gutzumachen, sondern sich für Neues zu öffnen. Die richtige Reaktion heisst deshalb: Schwamm drüber.
Aus meiner Praxiserfahrung weiss ich, dass solche Prozesse für Menschen jeden Alters möglich sind. Gewiss braucht es für Ältere mehr Mut. Das beschriebene Therapiekonzept beruht aber auf der Überzeugung, dass die menschliche Natur konstruktiv ist und danach strebt, sich zu entwickeln. Wenn Hindernisse beseitigt, Blockaden gelöst und Verdrängungen erkannt werden, heilt unsere Seele im Grunde genommen von selbst.