Seit bald eineinhalb Jahren sitzt die elfjährige Rima (Name von der Redaktion geändert) in ihrer Zürcher Schulbank und schweigt vor sich hin. Wenn die Türe einmal etwas lauter ins Schloss fällt, ein Fenster vom Wind zugeschlagen wird oder ein Buch zu Boden fällt, dann schaut das zierliche Mädchen aus Sri Lanka verstört um sich – die Augen voller Panik.

Rimas Stummheit ist laut der Zürcher Schulpsychologin Jeannette Baratella typisch für Kinder aus Kriegsgebieten: «Sie sind bis obenhin voll von unverarbeiteten Bildern und Erlebnissen, so dass sie sich gar nicht auf das Erlernen einer neuen Sprache einlassen können. Sie sind innerlich wie versteinert.» Neben den Stummen gibt es aber auch diejenigen, die durch übertriebene Aktivität, Aggressivität oder sogar tyrannisches Gehabe auffallen. «Weil sich die Kinder während des Krieges dermassen ausgeliefert und schutzlos fühlten, streben sie jetzt danach, in ihrer Umgebung alles unter Kontrolle zu halten und selber zu kommandieren.»

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Die Seele ist überfordert

Alarmiert durch den Klassenlehrer, sucht die Schulpsychologin das Gespräch mit Rimas Eltern. Das Treffen findet im Beisein eines so genannten Mediators statt: Rajan Rajakumar aus Sri Lanka vermittelt nicht nur in sprachlichen, sondern auch in kulturellen Belangen.

Im Gespräch mit der Mutter wird schnell klar, dass die Stummheit nicht das einzige Anzeichen für Rimas überforderte Seele ist. «Es vergeht kaum eine Nacht, in der Rima im Schlaf nicht schreit oder weint und irgendwann schweissgebadet aufwacht.» Und wenn die Eltern nachts nicht den Wohnungsschlüssel abziehen würden, dann wäre Rima wohl schon zigmal auf die Strasse gerannt, fliehend vor explodierenden Bomben, die sie im Schlaf verfolgen.

Rima leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen, wie es in der Fachsprache heisst: Weil die Sinnesorgane während der traumatischen Vorfälle überreizt waren, konnte das Hirn die Eindrücke nur ungenügend speichern. Die Bilder werden nun immer wieder hervorgerufen: in Form von Albträumen, von Tagträumen, von Flashbacks. Da das ständige Wiedererleben der Schreckensbilder quälend ist, versucht das traumatisierte Kind, die auslösenden Reize zu vermeiden. Beides setzt den Körper in Alarmbereitschaft – Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme und Schreckhaftigkeit sind die Folgen.

Viele Fachleute waren bis weit in die achtziger Jahre der Ansicht, dass Kinder zwar auf ein akutes traumatisches Erlebnis reagieren, diese Störungen aber nur kurzfristig seien. Mittlerweile aber ist bekannt, dass Kinder nach einem Trauma ähnliche Symptommuster entwickeln wie Erwachsene. Das Risiko, posttraumatische Belastungsstörungen zu entwickeln, ist besonders hoch, wenn das Angst auslösende Ereignis mit Lebensgefahr, extremem Kontrollverlust sowie Gewalt verbunden ist – und wenn es lang andauert.

Laut Markus A. Landolt vom Universitäts-Kinderspital Zürich, der auf die Behandlung traumatisierter Kinder spezialisiert ist, kommt es dabei aber weniger auf das «tatsächliche Ereignis an als vielmehr auf die subjektive Gefahreinschätzung durch das Kind». Es kann deshalb sein, dass einem Dreijährigen bei einer Entführung die Pistole an den Kopf gehalten wird, er aber zu klein ist, um die Gefahr zu begreifen. Er wird in der Folge kaum auf diesen Vorfall reagieren.

Kein Patentrezept zur Heilung

Dagegen hatte sich ein sechsjähriges Mädchen von den Läusen auf seinem Kopf zutiefst bedroht gefühlt und tauchte zwei Jahre später fast kahlköpfig mit seiner Mutter bei der Psychologin auf. Ohne sich der Gründe bewusst zu sein, hatte das Kind angefangen, sich die Haare auszuraufen, um ja zu vermeiden, dass ihm das Grauenvolle noch einmal widerfahren konnte.

Laut Landolt gibt es kein Patentrezept für die geeignete Therapie bei traumatisierten Kindern: «Es geht wie bei den Erwachsenen darum, diejenige Technik herauszufinden, auf die sie am besten ansprechen.» Da es bei Kindern je nach Alter, Persönlichkeit und Art des Erlebten oft schwierig ist, mit Worten zu arbeiten, werden andere Ausdrucksmittel hinzugezogen: Malen, Sandkasten- oder Puppenspiele.

Weil während des traumatischen Erlebnisses die Umgebungsreize nicht differenziert verarbeitet wurden, sind im Gedächtnis oft auch nebensächliche Details wie Tapetenmuster, Farben oder bestimmte Gerüche an die Angsterfahrung gekoppelt. So dass nun ein solcher Reiz genügt, die Angstreaktion auszulösen: Ein Kind, das einen Hausbrand miterlebte, reagiert vielleicht schon beim Duft gebratener Cervelats mit einer Panikattacke.

Ziel jeder Therapie ist es, herauszufinden, auf welche Reize das traumatisierte Kind reagiert – und Ordnung in seine Erinnerungen zu bringen. Markus A. Landolt: «Die kognitive Einordnung ist auch für Kinder von entscheidender Bedeutung für eine erfolgreiche Bewältigung.»

Als Rima vor eineinhalb Jahren in die Schweiz kam, war sie nicht nur seelisch, sondern auch körperlich verletzt, weil sie kurz vor ihrer Flucht von Granatsplittern getroffen worden war. «Ich musste sie auf den Armen wegtragen», erinnert sich die Mutter, «und ihre Kleider waren blutdurchtränkt. Ich war verzweifelt, wusste nicht, in welche Richtung wir flüchten sollten, wo die nächste Granate niedergeht. Überall lagen Menschen am Boden, schrien, starben vor unseren Augen.»

Es sprudelt nur so aus Rimas Mutter heraus. Ein Bild des Grauens nach dem anderen breitet sie aus. Kurz darauf kommt der Vater von der Arbeit nach Hause. Rimas Mutter verstummt.

«Wird in der Familie über den Krieg geredet und über das, was ihr erlebt habt?», fragt ihn der Mediator. Rimas Vater schüttelt den Kopf. «Nein», sagt er entschieden. Er unterbreche seine Frau und die Tochter jedes Mal, wenn sie wieder davon anfangen würden. «Sie sollen endlich vergessen», sagt er mit fester Stimme. «Wir sind nun in der Schweiz.»

Rajakumar versucht vorsichtig zu erklären, dass er zwar verstehe, dass es schmerzhaft sei, sich zu erinnern. «Aber damit Rima irgendwann nicht mehr diese schrecklichen Träume hat, ist es wichtig, dass ihr mit ihr über das Erlebte redet.»

«Eltern versuchen fälschlicherweise oft, ihre Kinder zu schonen», so die Erfahrung des Traumatherapeuten Landolt. Dabei wäre es wichtig, über das Erlebte und die belastenden Bilder zu sprechen. «Unsere erste Aufgabe ist es deshalb stets, die Eltern aufzuklären und ihnen zu zeigen, wie sie ihrem Kind helfen können.» Die Familienangehörigen sind nämlich gemäss Landolt bei traumatisierten Kindern oft die geeignetsten Therapeuten: «Da diese Kinder in ihrem innersten Gefühl der Sicherheit zutiefst gestört wurden, müssen wir versuchen, ihnen so weit als möglich einen geschützten Rahmen zu geben und sie im Umfeld derer zu belassen, bei denen sie sich geborgen und vertraut fühlen.»

Wenn immer möglich werden Traumatherapien deshalb unter Einbezug der ganzen Familie durchgeführt. Oft reicht es sogar, wenn ein Mediator die Familie betreut und ein bis zwei Mal monatlich mit dem Kinderpsychologen Rücksprache hält. Nur in Härtefällen oder wenn das Trauma in direktem Zusammenhang mit dem Elternkontakt steht, verschreibt Landolt dem Kind eine Einzeltherapie.

Bei Rima haben die Psychologen nochmals zu einer anderen Lösung gefunden. Mediator Rajakumar geht zwar regelmässig bei der Familie vorbei. Ausserdem aber besucht das Mädchen seit kurzem zusammen mit ein paar anderen Kindern aus Kriegsgebieten eine Gruppentherapie. Dies hilft ihr zugleich, in ihrer neuen Heimat Kontakte zu knüpfen. Nachdem Rima in den ersten Therapiestunden stets Flugzeuge, Wurfgeschosse und Verletzte zeichnete, kommen in letzter Zeit andere Motive hinzu: Rima als Prinzessin, Rima mit ihrer Freundin Sandra auf dem Spielplatz, Rima mit ihrer Mutter im Zoo.

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Dieser Beitrag erscheint in Zusammenarbeit zwischen Beobachter und schweizer Fernsehen DRS. Redaktionelle Verantwortung: Monika Zinnenlauf

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