Administratives Verfahren gegen Psychiater Jan Gysi eingeleitet
Der Berner Experte vertritt umstrittene Theorien – und verbreitet sie in der Fachwelt.
Veröffentlicht am 27. März 2023 - 18:20 Uhr
Elektronische Fussfesseln für Täter können im Strafvollzug nützlich und sinnvoll sein. Aber Fussfesseln für Opfer? Das beschreibt der Berner Psychiater Jan Gysi als valable Methode zum Schutz von angeblichen Opfern organisierter ritueller Gewalt. So steht es in seinem 103 Seiten umfassenden Bericht «Organisierte sexualisierte Ausbeutung» von Anfang 2021.
Gysis These: Durch Zufügen grausamer Schmerzen und/oder Erzeugen von Todesangst, «meist durch eine schnelle und unvorbereitete Analpenetration» sowie «durch Strangulation, Waterboarding oder sonstige Foltermethoden», und durch die gleichzeitige Anwendung von hypnotischen Techniken und Drogen wie Ketamin oder Alkohol würden gewisse Tätergruppen bei Opfern eine dissoziative Störung (DIS) herbeiführen, früher multiple Persönlichkeit genannt. Dies oft schon in der Kindheit oder Jugend.
So steht es in einer weiteren Schrift Gysis mit dem Titel «Internationaler Aufruf zu Hinweisen auf Gewalt, die zu dissoziativen Identitätsstörungen (DIS) führt». Das Papier sei «in Kooperation mit dem Bundesamt für Polizei (Fedpol)» entstanden, steht weiter. Eine offizielle Zusammenarbeit hat es laut Fedpol allerdings nicht gegeben, man habe das Dokument auch nie verwendet.
Die «totale Kontrolle» über die Opfer
«Diese Form der Kontrolle und Ausbeutung wird auch als Mind Control bezeichnet», heisst es in Gysis Bericht von 2021 weiter. Ziel sei es, über «täterloyale Persönlichkeitsanteile» die «totale Kontrolle» über das Opfer zu erhalten und es dazu zu bringen, schlimme Taten zu begehen oder über sich ergehen zu lassen. Darum sei es wichtig, den Kontakt zwischen Tätern und Opfern zu unterbinden, notfalls mittels Tracking der Opfer.
Das Problem laut Gysi: «Täterloyale Schutzanteile» des Opfers – also Bewusstseinsanteile, welche die Täter schützen – würden sich gegen Tracking wehren, indem sie etwa das Handy ausschalten oder zu Hause lassen. Auch andere Geräte «wurden von Anteilen, oft auf Anweisung der Täterschaft, abgeschaltet oder zu Hause gelassen». In einem Fall sei es sogar dazu gekommen, dass es bei der medizinischen Spurensicherung eines Opfers «auf dem gynäkologischen Stuhl zum Wechsel zu täterloyalen Anteilen kam, die eine Untersuchung verhindert haben». Hier sollen die elektronischen Fussfesseln zum Zug kommen, die man selbst nicht entfernen kann.
Bis heute gibt es keine wissenschaftlich erhärteten Hinweise, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen gezielt aufspalten und fremdsteuern liesse, wie das die Mind-Control-Theorie behauptet.
Thomas Maier, ärztlicher Direktor der Psychiatrie St. Gallen, hält Mind Control grundsätzlich für eine Verschwörungstheorie (siehe Interview). Zu Gysis Ansichten sagt er: «Die dissoziative Störung ist viel zu komplex und auch individuell, als dass sie gezielt induziert werden könnte, erst recht nicht bei Kleinkindern. Dass man so etwas annehmen kann, entspringt meiner Meinung nach einem naiven Irrglauben.»
Er gilt als Koryphäe
Bis heute gibt es keine wissenschaftlich erhärteten Hinweise, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen gezielt aufspalten und fremdsteuern liesse, wie das die Mind-Control-Theorie behauptet. Die Statistiken, die Gysi und andere Anhänger von Mind Control und rituellem Missbrauch aufführen, basieren ausschliesslich auf Aussagen von Patienten und deren Therapeuten. Die Existenz von ritueller Gewalt, die auf Mind Control basiert, wurde nie rechtsgültig belegt. Entsprechende Anschuldigungen hielten vor Gericht nicht stand. Auch in der Schweiz wurde bis heute kein einziger Fall nachgewiesen oder gar strafrechtlich mit einer Verurteilung abgeschlossen.
Trotz seiner teils zweifelhaften Ansichten gilt Jan Gysi vielen als die Schweizer Koryphäe in Sachen Psychotraumatologie. Und er hat viele Gelegenheiten, seine Theorien der Fachwelt vorzustellen. So lud ihn die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) kürzlich als Referenten an ihre Jahrestagung in Zürich ein.
Doch wie steht die DeGPT zu ritueller Gewalt und Mind Control? «Neben körperlicher und sexualisierter Gewalt erfolgt in organisierten Kontexten häufig ein hohes Mass an psychischer Gewalt und Manipulation. Unterschiedliche Beschreibungen wie ‹Gehirnwäsche›, ‹Mind Control›, ‹Programmierungen› oder ‹Bewusstseinskontrolle› versuchen, die systematische Einflussnahme der Täter:innen auf die Psyche eines Opfers zu beschreiben», schreibt die DeGPT online in einem Erklärartikel mit «evidenzbasierten Antworten». Auf Nachfrage heisst es, man überarbeite das Papier derzeit, da «Formulierungen momentan noch eine Unschärfe haben, die wir gern eindeutiger formulieren möchten.»
Studien basieren auf Erzählungen
Gysi ist auch Referent an Weiterbildungsseminaren, etwa am Institut für Körperzentrierte Psychotherapie (IKP) in Zürich, genauso wie in Wien am Zentrum für Angewandte Psychotraumatologie. Dessen Institutsleiterin Sylvia Wintersperger hat sich laut ihrem Curriculum seit 1999 in Psychotraumatologie weitergebildet, unter anderem bei einer Vertreterin der zweifelhaften Theorie der Mind Control und der rituellen Gewalt.
Gysi referiert dieses Jahr zudem am Trauma Hilfe Zentrum in München. Auch der ehemalige Oberarzt der Thurgauer Klinik Clienia Littenheid, Matthias Kollmann, der im Frühling 2022 wegen seiner Nähe zu den zweifelhaften Theorien von Mind Control und ritueller Gewalt entlassen worden war, wird dort ein Seminar abhalten.
So fassen Theorien, die lediglich auf Erzählungen von Patienten und ihren Therapeuten beruhen, in der Fachwelt Fuss, werden an Therapeutinnen, Pflegepersonal und Studenten weitervermittelt und in Literaturlisten als angeblich wissenschaftlich aufgeführt.
Und was sagt Jan Gysi zu alledem? Als Mediziner und als Verfasser eines Standardwerks zur Diagnostik von Traumafolgestörungen orientiere er sich an der Wissenschaftlichkeit, schreibt er in seiner Stellungnahme. «Wenn Aussagen von Patientinnen und Patienten auf intensive Manipulationen unter Zwangsbedingungen hindeuteten – manchmal vereinfacht Mind Control genannt –, sollte dies aufgrund der aktuellen Forschungsergebnisse nicht von vornherein als Lüge, Scheinerinnerung oder gar Wahn eingestuft werden.»
Fachkollege distanziert sich
Und die Fussfesseln? «Der Einsatz von Electronic Monitoring wäre an verschiedene Bedingungen geknüpft gewesen, wie den expliziten Auftrag der Betroffenen und ihrer Angehörigen, umfassende Sicherheitsaspekte sowie die Kooperation mit den lokalen Polizeibehörden», schreibt er. Vertiefte Vorabklärungen hätten aber zur Erkenntnis geführt, dass der Einsatz von Electronic Monitoring aus juristischen, polizeilichen, finanziellen und therapeutischen Gründen nicht sinnvoll sei. «Das Projekt wurde deshalb 2021 bereits in einer frühen Abklärungsphase sistiert.»
Die Berner Gesundheitsdirektion führt derzeit wegen Hinweisen auf seine Nähe zu Mind Control ein administratives Verfahren gegen Jan Gysi.
Tatsächlich wurde der Verein für Opfersicherheit, über den Gysi seine Idee mit elektronischen Fussfesseln weiterverfolgen wollte, aufgelöst. Allerdings erst im Januar 2023. «Der Hauptgrund liegt in vereinzelten unausgewogenen und tendenziösen medialen Berichten, durch die auch seriöse Fachpersonen, wichtige Beratungsstellen und dieser Verein in ein falsches Licht gerückt wurden», schreibt Gysi auf der Website. Und: «Für den Vorstand und die Mitglieder sind sachliche Fragestellungen zu diesem Thema und die Betreuung der Betroffenen nach wie vor von grosser Bedeutung.»
Die Berner Gesundheitsdirektion führt derzeit wegen Hinweisen auf seine Nähe zu Mind Control ein administratives Verfahren gegen ihn, und die Ärztegesellschaft des Kantons Bern hat aus dem gleichen Grund ein Standesverfahren gegen ihn eingeleitet. Zu den laufenden Verfahren will Gysi keinen Kommentar abgeben. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Auch der Traumaspezialist Andreas Maercker, Professor für Psychopathologie und Klinische Intervention an der Universität Zürich, der das Vorwort zu Gysis Buch «Diagnostik von Traumafolgestörungen» geschrieben hat, geht auf Distanz: «Nach dem heutigen Wissensstand um die Ausrichtung von Dr. Gysi in Sachen Mind Control und rituelle Gewalt würde ich das nicht mehr tun.»
11 Kommentare
Liebe Frau Haefely, ich habe nicht die geringste Ahnung, was Ihr Motiv sein kann, einen solch verleumdenden Bericht über ein derartig wichtiges und ernstes Thema zu verfassen, das so dringend mehr Aufmerksamkeit erhalten sollte. Es macht mich zutiefst traurig und lässt meinen Glauben in das Gute im Menschen weiter schwinden, dass der Beobachter, den ich bis jetzt stets für seriös und gut recherchierte Artikel geschätzt hatte, etwas Derartiges veröffentlicht. Ja, es gibt sie, die kPTBS. Ja, es gibt sie, die DIS. Ja, es gibt ihn, den familiären Missbrauch, und den ritualisierten Missbrauch. Ja, es gibt sie, die organisierte Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen, diese abartige sexuelle Gewalt, das gezielte Aufspalten von Menschen, damit diese Menschen niemals irgendwem davon berichten können, was sie erlebt haben, weil die entsprechenden Anteile im Innern versteckt sind, werden sie wieder in den Alltag entlassen. Wann tun wir endlich etwas dagegen, Frau Haefely? Während Sie hier noch darüber rätseln, nein, stimmt ja nicht, während sie das Ganze in den Dreck ziehen und lächerlich machen, sich an dem Begriff „Mind Control“ aufhängen, wie unten bereits erwähnt, der ja komplett irrelevant ist (Sie können es nennen, wie Sie wollen, Herr Gysi sagt ja einfach nur, es ist ein Begriff, den man für diese Art des Vorgehens verwenden kann, mehr nicht; vielleicht sollten Sie mal sein Buch lesen) - geschehen da draussen jeden Tag diese ungeheuerlichen Brutalitäten an Menschen. Eine Frage an Sie, Frau Haefely, haben Sie jemals mit einer betroffenen Person gesprochen? Was sollte wohl eine solche Person für ein Motiv haben, sich derartige Grausamkeiten auszudenken? Und interessanterweise immer mehr Personen, die immer gleichen Muster? Haben die sich alle parallel dasselbe ausgedacht? Haben Sie sich alle Zeit genommen, um sich ganz viele Details auszudenken, z.B. wie ihnen Erbrochenes wieder eingelöffelt wurde, während der Täter ihnen eingebläut hat, dass sie nur ihm gehören und nur tun dürfen, was er befiehlt? Haben Sie das Gefühl, eine solch extremst traumatisierte Person ist auf Geld aus, Schadenersatz, oder wie? Dann darf ich Sie hiermit aufklären, liebe Frau Haefely, keine dieser Personen ist auf Geld aus, denn sie sind sehr stark damit beschäftigt, zu überleben unter extremsten Bedingungen, insbesondere, wenn sie noch Täterkontakt haben, aber auch sonst, weil sie durch die jahre-, oft jahrzehntelangen Misshandlungen unter schwersten psychischen und physischen Beschwerden leiden. Wissen Sie, was die wollen? Sie wollen nur leben, in Ruhe ihr Leben leben, und dafür brauchen Sie Hilfe, wie die von Jan Gysi beispielsweise. Wissen Sie, wie das ist, wenn man nur in Ruhe leben will und das einfach nicht zugelassen wird, man furchtbare Symptome hat, furchtbare Flashbacks, immer wieder fehlende Zeit, und einem dann noch unterstellt wird, man denke sich alles nur aus? Während man selber ja so extrem an sich zweifelt? Wie lange haben Sie sich mit dem Thema beschäftigt, Frau Haefely? Ein paar Wochen? Denken Sie, da werden Sie so einem unglaublich komplexen Thema gerecht? Ich weiss leider zu viel darüber, ich kenne zu viele Opfer sowie auch psychologische Fachpersonen, viel mehr, als gut für mich ist. Denn mit diesem ganzen Wissen, dem Miterleben von brutal zerrütteten Leben, und gleichzeitig dieser Wehrlosigkeit gegenüber dieser verdammt gut organisierten und perfide strukturierten Kriminalität, so zu leben ist verdammt hart. Und Menschen wie Sie, die einer Aufklärung darüber im Weg stehen und sie verzögern, schaden enorm und lassen die Personen, die schon das schwerste vorstellbare Leid dieser Welt auf den Schultern tragen, noch mehr leiden, und die Täterschaft ihre Kriminalität weiterhin ausleben, ohne Konsequenzen. Es tut mir leid, aber Sie sollten sich schämen. Das ist das einzige, was da zu sagen bleibt. Sie sollten das wieder gut machen. Sie sollten sich richtig mit dem Thema befassen und einen revidierten Artikel veröffentlichen. Ich stehe Ihnen gerne für vertiefte Informationen zur Verfügung. Zuletzt möchte ich allen danken, die unten einen Kommentar hinterlassen haben, welche das Ganze ins richtige Licht rücken. Es braucht nämlich Mut. Denn wir wagen es, die Wahrheit, die eigentlich unaussprechliche, grauenhafte Wahrheit, auszusprechen, während die Schwerstverbrecher natürlich alles daran setzen, sie zu vertuschen. Denen bietet man eigentlich lieber nicht die Stirn, denn das ist gefährlich. Aber wir müssen damit anfangen, im Namen aller Opfer. Wir müssen einfach.
@Lucia dieser Meinung bin ich auch!
Es ist für mich bedenklich, wie Journalismus gemacht wird. Dieser Artikel finde ich nicht nur tendenziös und nicht neutral, sondern auch gefährlich.
Der Psychiater stützt sich nur auf Aussagen von Patienten? Und? Was ist daran falsch? Sollte er den vermeintlichen Täter befragen? NEIN! Er ist kein Polizist, kein Anwalt, kein Politiker. Er ist Arzt und versucht, die kaputten Teile eines Menschen wieder zusammenzuflicken, damit der unglaubliche Schmerz und das Leid aufhören können, das Menschen, die nicht betroffen sind, oft nicht glauben wollen und können.
Was ist daran falsch? Die Theorie darüber, wer, was, warum und weshalb ein Mensch kaputtgegangen ist, ist eine andere Sache. Aber ehrlich gesagt, ist es doch wissenschaftlich mehr als bewiesen, dass Gewalt im Allgemeinen und insbesondere sexuelle Gewalt großen psychischen Schaden anrichten können (nicht müssen, es gibt einfach resilientere Menschen). Und wir wissen auch, dass Gewalt in der Kindheit noch verheerender ist. Wir wissen auch, dass organisierte Gruppierungen existieren, die psychische Gewalt anwenden, um ihre Mitglieder zu binden, und diese Gruppierungen werden dann als Sekten bezeichnet. Also, ich finde es eine Beleidigung, J.G. a priori als Verschwörungstheoretiker abzustempeln.
Wenn der Herr X. sein Vorwort von dem Buch geschrieben hat, hat er wohl das Buch in Ordnung befunden. Was passiert jetzt? Er rudert zurück und sagt, er unterstützt es nicht mehr. Warum? Aus Angst, dass er selbst als Verschwörungstheoretiker abgestempelt wird, aus Angst vor Ausgrenzung... So schnell geht das...
Wie mit 'Jesus' (vermerkt, dass J.G sicher kein Heiliger ist und nicht sich als solche bezeichnet; der Vergleich gilt nur die Umständen); solange Jesus nicht verfolgt wurde, gab es keine Gefahr, man konnte ihm folgen, oder nicht, glauben oder nicht... Die Spaltungen und Kriege begannen, als die Mächtigen sich durch seine 'Theorien' bedroht fühlten und ein 'Administrativverfahren' gegen ihn einleiteten! Das Todesurteil an Jesus war dann die Folge. Das „Problem“ war damit jedoch nicht gelöst, im Gegenteil, es markierte den Anfang einer Spaltung, die die Menschheit bis heute trennt und zerstört.
In einem Land wie der Schweiz? Lächerlich. Mind. jede 10 Frau gibt repräsentiert an, mind. 1x vergewaltigt worden zu sein. Villeicht haben wir ja ein Massenpsychose Problem? Lieber Beobachter?