Elektronische Fussfesseln für Täter können im Strafvollzug nützlich und sinnvoll sein. Aber Fussfesseln für Opfer? Das beschreibt der Berner Psychiater Jan Gysi als valable Methode zum Schutz von angeblichen Opfern organisierter ritueller Gewalt. So steht es in seinem 103 Seiten umfassenden Bericht «Organisierte sexualisierte Ausbeutung» von Anfang 2021. 

Gysis These: Durch Zufügen grausamer Schmerzen und/oder Erzeugen von Todesangst, «meist durch eine schnelle und unvorbereitete Analpenetration» sowie «durch Strangulation, Waterboarding oder sonstige Foltermethoden», und durch die gleichzeitige Anwendung von hypnotischen Techniken und Drogen wie Ketamin oder Alkohol würden gewisse Tätergruppen bei Opfern eine dissoziative Störung (DIS) herbeiführen, früher multiple Persönlichkeit genannt. Dies oft schon in der Kindheit oder Jugend.

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So steht es in einer weiteren Schrift Gysis mit dem Titel «Internationaler Aufruf zu Hinweisen auf Gewalt, die zu dissoziativen Identitätsstörungen (DIS) führt». Das Papier sei «in Kooperation mit dem Bundesamt für Polizei (Fedpol)» entstanden, steht weiter. Eine offizielle Zusammenarbeit hat es laut Fedpol allerdings nicht gegeben, man habe das Dokument auch nie verwendet.

Die «totale Kontrolle» über die Opfer

«Diese Form der Kontrolle und Ausbeutung wird auch als Mind Control bezeichnet», heisst es in Gysis Bericht von 2021 weiter. Ziel sei es, über «täterloyale Persönlichkeitsanteile» die «totale Kontrolle» über das Opfer zu erhalten und es dazu zu bringen, schlimme Taten zu begehen oder über sich ergehen zu lassen. Darum sei es wichtig, den Kontakt zwischen Tätern und Opfern zu unterbinden, notfalls mittels Tracking der Opfer.

Das Problem laut Gysi: «Täterloyale Schutzanteile» des Opfers – also Bewusstseinsanteile, welche die Täter schützen – würden sich gegen Tracking wehren, indem sie etwa das Handy ausschalten oder zu Hause lassen. Auch andere Geräte «wurden von Anteilen, oft auf Anweisung der Täterschaft, abgeschaltet oder zu Hause gelassen». In einem Fall sei es sogar dazu gekommen, dass es bei der medizinischen Spurensicherung eines Opfers «auf dem gynäkologischen Stuhl zum Wechsel zu täterloyalen Anteilen kam, die eine Untersuchung verhindert haben». Hier sollen die elektronischen Fussfesseln zum Zug kommen, die man selbst nicht entfernen kann. 

Bis heute gibt es keine wissenschaftlich erhärteten Hinweise, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen gezielt aufspalten und fremdsteuern liesse, wie das die Mind-Control-Theorie behauptet.

Thomas Maier, ärztlicher Direktor der Psychiatrie St. Gallen, hält Mind Control grundsätzlich für eine Verschwörungstheorie (siehe Interview). Zu Gysis Ansichten sagt er: «Die dissoziative Störung ist viel zu komplex und auch individuell, als dass sie gezielt induziert werden könnte, erst recht nicht bei Kleinkindern. Dass man so etwas annehmen kann, entspringt meiner Meinung nach einem naiven Irrglauben.»

Er gilt als Koryphäe

Bis heute gibt es keine wissenschaftlich erhärteten Hinweise, dass sich die Persönlichkeit eines Menschen gezielt aufspalten und fremdsteuern liesse, wie das die Mind-Control-Theorie behauptet. Die Statistiken, die Gysi und andere Anhänger von Mind Control und rituellem Missbrauch aufführen, basieren ausschliesslich auf Aussagen von Patienten und deren Therapeuten. Die Existenz von ritueller Gewalt, die auf Mind Control basiert, wurde nie rechtsgültig belegt. Entsprechende Anschuldigungen hielten vor Gericht nicht stand. Auch in der Schweiz wurde bis heute kein einziger Fall nachgewiesen oder gar strafrechtlich mit einer Verurteilung abgeschlossen. 

Trotz seiner teils zweifelhaften Ansichten gilt Jan Gysi vielen als die Schweizer Koryphäe in Sachen Psychotraumatologie. Und er hat viele Gelegenheiten, seine Theorien der Fachwelt vorzustellen. So lud ihn die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) kürzlich als Referenten an ihre Jahrestagung in Zürich ein. 

Doch wie steht die DeGPT zu ritueller Gewalt und Mind Control? «Neben körperlicher und sexualisierter Gewalt erfolgt in organisierten Kontexten häufig ein hohes Mass an psychischer Gewalt und Manipulation. Unterschiedliche Beschreibungen wie ‹Gehirnwäsche›, ‹Mind Control›, ‹Programmierungen› oder ‹Bewusstseinskontrolle› versuchen, die systematische Einflussnahme der Täter:innen auf die Psyche eines Opfers zu beschreiben», schreibt die DeGPT online in einem Erklärartikel mit «evidenzbasierten Antworten». Auf Nachfrage heisst es, man überarbeite das Papier derzeit, da «Formulierungen momentan noch eine Unschärfe haben, die wir gern eindeutiger formulieren möchten.»

Studien basieren auf Erzählungen

Gysi ist auch Referent an Weiterbildungsseminaren, etwa am Institut für Körperzentrierte Psychotherapie (IKP) in Zürich, genauso wie in Wien am Zentrum für Angewandte Psychotraumatologie. Dessen Institutsleiterin Sylvia Wintersperger hat sich laut ihrem Curriculum seit 1999 in Psychotraumatologie weitergebildet, unter anderem bei einer Vertreterin der zweifelhaften Theorie der Mind Control und der rituellen Gewalt.

Gysi referiert dieses Jahr zudem am Trauma Hilfe Zentrum in München. Auch der ehemalige Oberarzt der Thurgauer Klinik Clienia Littenheid, Matthias Kollmann, der im Frühling 2022 wegen seiner Nähe zu den zweifelhaften Theorien von Mind Control und ritueller Gewalt entlassen worden war, wird dort ein Seminar abhalten.

So fassen Theorien, die lediglich auf Erzählungen von Patienten und ihren Therapeuten beruhen, in der Fachwelt Fuss, werden an Therapeutinnen, Pflegepersonal und Studenten weitervermittelt und in Literaturlisten als angeblich wissenschaftlich aufgeführt.

Und was sagt Jan Gysi zu alledem? Als Mediziner und als Verfasser eines Standardwerks zur Diagnostik von Traumafolgestörungen orientiere er sich an der Wissenschaftlichkeit, schreibt er in seiner Stellungnahme. «Wenn Aussagen von Patientinnen und Patienten auf intensive Manipulationen unter Zwangsbedingungen hindeuteten – manchmal vereinfacht Mind Control genannt –, sollte dies aufgrund der aktuellen Forschungsergebnisse nicht von vornherein als Lüge, Scheinerinnerung oder gar Wahn eingestuft werden.» 

Fachkollege distanziert sich

Und die Fussfesseln? «Der Einsatz von Electronic Monitoring wäre an verschiedene Bedingungen geknüpft gewesen, wie den expliziten Auftrag der Betroffenen und ihrer Angehörigen, umfassende Sicherheitsaspekte sowie die Kooperation mit den lokalen Polizeibehörden», schreibt er. Vertiefte Vorabklärungen hätten aber zur Erkenntnis geführt, dass der Einsatz von Electronic Monitoring aus juristischen, polizeilichen, finanziellen und therapeutischen Gründen nicht sinnvoll sei. «Das Projekt wurde deshalb 2021 bereits in einer frühen Abklärungsphase sistiert.»

Die Berner Gesundheitsdirektion führt derzeit wegen Hinweisen auf seine Nähe zu Mind Control ein administratives Verfahren gegen Jan Gysi.

Tatsächlich wurde der Verein für Opfersicherheit, über den Gysi seine Idee mit elektronischen Fussfesseln weiterverfolgen wollte, aufgelöst. Allerdings erst im Januar 2023. «Der Hauptgrund liegt in vereinzelten unausgewogenen und tendenziösen medialen Berichten, durch die auch seriöse Fachpersonen, wichtige Beratungsstellen und dieser Verein in ein falsches Licht gerückt wurden», schreibt Gysi auf der Website. Und: «Für den Vorstand und die Mitglieder sind sachliche Fragestellungen zu diesem Thema und die Betreuung der Betroffenen nach wie vor von grosser Bedeutung.»

Die Berner Gesundheitsdirektion führt derzeit wegen Hinweisen auf seine Nähe zu Mind Control ein administratives Verfahren gegen ihn, und die Ärztegesellschaft des Kantons Bern hat aus dem gleichen Grund ein Standesverfahren gegen ihn eingeleitet. Zu den laufenden Verfahren will Gysi keinen Kommentar abgeben. Es gilt die Unschuldsvermutung. 

Auch der Traumaspezialist Andreas Maercker, Professor für Psychopathologie und Klinische Intervention an der Universität Zürich, der das Vorwort zu Gysis Buch «Diagnostik von Traumafolgestörungen» geschrieben hat, geht auf Distanz: «Nach dem heutigen Wissensstand um die Ausrichtung von Dr. Gysi in Sachen Mind Control und rituelle Gewalt würde ich das nicht mehr tun.»