Traumdeutung: «Ich glaubte, meinen Sohn umbringen zu müssen»
Vor einiger Zeit habe ich von meinem heute 12-jährigen Sohn geträumt, als er noch ein Kleinkind war. Plötzlich wusste ich, dass ich ihn umbringen muss. Ich schlug ihm mit einem Stein dreimal heftig auf den Kopf. Aber es passierte nichts, er blutete nicht einmal. Dann erwachte ich – und seither plagt mich dieser Traum. Selma G.
Veröffentlicht am 18. August 2003 - 00:00 Uhr
Ich kann gut verstehen, dass Sie der Traum beunruhigt, denn die eigenen Kinder zu töten ist für alle Eltern eine schreckliche Vorstellung. Nehmen Sie den Traum aber nicht wörtlich. Sigmund Freud hat bereits vor 100 Jahren in seinem Werk über die Traumdeutung geschrieben, dass der Traum mehr verhüllt, als er zeigt. Dass er eine Art Bilderrätsel ist, das man auflösen muss, um zu verstehen, was er bedeutet.
Freuds Schweizer Schüler Carl Gustav Jung hat sich ebenfalls intensiv mit Träumen beschäftigt und seinerseits besonders betont, dass Träume Wegweiser für unser Leben sein können. Dass uns das Unbewusste als Quelle der Träume etwas zeigen will, das unser Bewusstsein noch nicht erkannt hat oder lieber nicht sehen möchte. Eine tief gehende Analyse eines Traums oder einer Traumserie ist allerdings nur in einer Psychotherapie möglich, denn es braucht ein Gespräch mit dem Träumenden, um die individuelle Bedeutung der einzelnen Traumbilder zu ergründen.
Trotzdem ergibt bereits Ihre kurze Beschreibung einen Sinn: Beruhigend ist, dass Ihr Sohn im Traum nicht stirbt. Wahrscheinlich ist mit dem Tod eben nicht das Ende des Lebens gemeint. Auf der Symbolebene bedeutet Tod nämlich nur Verwandlung. Etwas Altes muss vergehen, damit etwas Neues wachsen kann. Darum ist zum Beispiel auf der dreizehnten Tarotkarte, die den Tod darstellt, im Hintergrund eine aufgehende Sonne zu sehen. Ihr Sohn ist zwölf, also in der Pubertät oder Vorpubertät, und soll im Traum als Kleinkind getötet werden.
In der Tat stirbt mit dem Eintritt der Geschlechtsreife ein Stück unbeschwerte Kindheit. Wir vergessen das oft, weil wir es gewohnt sind, immer nach vorn zu schauen. Vielleicht will Sie der Traum darauf hinweisen, dass Sie diesem Entwicklungsschritt Ihres Sohnes vermehrt Rechnung tragen sollten. Sie müssen ihm mehr Selbstständigkeit gewähren, ihn gefühlsmässig mehr loslassen, akzeptieren, dass er immer weniger Kind und immer mehr Erwachsener wird.
Es besteht kein Grund für Schuldgefühle
Das symbolische Töten im Traum bedeutet also, dass etwas Überlebtes, nämlich ein Stück Kindlichkeit, sterben muss. Das ist kein Grund zur Beunruhigung oder gar für Schuldgefühle, sondern ein Ansporn, sorgfältig auf den Entwicklungsprozess Ihres Sohnes zu achten und flexibel darauf zu reagieren. Natürlich dürfen Sie auch ein wenig traurig sein, wenn Sie erkennen, dass seine Kinderzeit vorübergeht und sich damit auch Ihre Mutterrolle verändert.
Selbstverständlich können Träume vom Töten auch andere Bedeutungen haben. Es könnte sich zum Beispiel ein unbewusster Hass gegen jemanden dahinter verbergen. Oder es könnte ein Hinweis darauf sein, dass man sich ganz allgemein vermehrt mit dem Thema Sterben beschäftigen sollte. Ob man im Traum Opfer oder Täter ist, macht tiefenpsychologisch gesehen keinen grossen Unterschied. Carl Gustav Jung hat nämlich darauf hingewiesen, dass man alles im Traum als Ausdruck des Träumenden deuten kann:
Er ist die Bühne, die Kulisse, der Regisseur und alle Darsteller des nächtlichen Theaters. Alles zusammen spiegelt Licht und Schatten seines Unbewussten.