Traumdeutung: «Wurde mir der Tod meiner Tochter prophezeit?»
Veröffentlicht am 1. Januar 2001 - 00:00 Uhr
Das Problem:
«Können Sie mir beim Verstehen eines Traums helfen? Meine 12-jährige Tochter fällt im Traum als Kleinkind in eine Schlucht und scheint tot zu sein. Dann wächst sie aber in meinen Armen zu einer jungen Frau heran. Ich trage sie durch eine Bahnhofshalle ins Spital. Jemand sagt: «Die trägt ja eine Tote», aber ich bin voller Hoffnung, dass sie lebt. Prophezeit der Traum etwas Tragisches?»
Fabienne T.
Koni Rohner, Psychologe FSP:
Sigmund Freud hat betont, dass man einen Traum nur zusammen mit dem Träumenden wirklich deuten kann, weil die Traumbilder für den Träumenden noch eine ganz individuelle Bedeutung haben neben ihrem Symbolgehalt. Ich möchte mich deshalb nicht allzu sehr auf die Äste hinauslassen, sondern einfach ein paar Gedanken formulieren, die mir zu Ihrem Traum einfallen. Vielleicht regen diese Sie zum Nachdenken und eigenen Deuten an. Für eine tiefere Analyse sollten Sie sich einige Stunden Psychotherapie gönnen.
Mir scheint, dass Ihnen der Traum zeigen will, dass Ihre Tochter langsam erwachsen wird. Sie steht ja auch am Anfang der Pubertät. Sie muss nicht mehr im selben Mass getragen werden wie bisher, kindliche Elemente sterben, eine junge Frau wächst heran. Den Bahnhof würde ich als Symbol der Ablösung und der Entwicklung deuten, weil es ein Ort ist, an dem man eine Reise antreten kann. Die Sache mit dem Spital könnte ein Hinweis darauf sein, dass Sie die Pubertätsschwierigkeiten Ihrer Tochter nicht als Krankheit auffassen sollten, sondern als Entwicklungskrise, als Zeichen von Entfaltung.
Über tragische Aspekte würde ich mir keine Gedanken machen. Das Element «Tod» bedeutet hier wohl eher Übergang und Wandlung: Altes stirbt, Neues entfaltet sich. Ausserdem sind Leben und Tod «Gottes Sache». Es hat also keinen Sinn, über allfällige Schicksalsschläge nachzudenken oder sogar zu glauben, man könne sie verhindern. Es ist auch sehr selten, dass geträumte Todesfälle wirklich eintreten. C. G. Jung war der Meinung, dass unser Unbewusstes, das die Träume hervorbringt, oft viel klüger ist als unser Alltagsbewusstsein. Träume können also korrigieren, Probleme lösen und neue Wege aufzeigen. Sie sind eine Art innere Schule.
Sträuben Sie sich also nicht gegen die Selbstentfaltung Ihrer Tochter. Stellen Sie sich vielmehr darauf ein, sie auf dem Weg zum Erwachsenwerden liebevoll zu begleiten und ihr gleichzeitig die nötige Freiheit und Selbstständigkeit zu lassen.