Wie froh müssen die Festtage sein?
Beobachter-Kolumnistin Caroline Fux stellt sich ein paar Grundsatzfragen dazu, warum an Weihnachten Frohsinn verlangt wird – und kommt zum Schluss, dass alles vergänglich ist.
Veröffentlicht am 23. Dezember 2022 - 12:09 Uhr
Wer hat eigentlich mit der Idee angefangen, dass die Festtage froh sein sollen? Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Ich habe nichts gegen die Vision an sich und sperre mich höchst selten dagegen, wenn über mir oder über anderen der Glückseligkeitstopf ausgeschüttet wird.
Aber rein nüchtern betrachtet scheint das mit den Festtagen bei so vielen Leuten schwierig zu sein, dass man sich durchaus ein paar Grundsatzfragen stellen müsste.
Aufwühlende Fragen zu Weihnachten
Als in den Medien tätige Psychologin brauche ich definitiv keinen Kalender, um zu merken, dass Weihnachten naht. Denn Jahr für Jahr flattern zuverlässig Anfragen für Interviews ein, die keinen Zweifel daran lassen, dass sich uns ein emotionaler Krisenherd nähert. Ich spendiere Ihnen hier zur Einstimmung gern ein kleines Best-of:
- Wie vermeidet man Streit mit unliebsamen und erst noch alkoholisierten Verwandten?
- Was tun mit Kindern, die kurz davor sind, im Geschenkeflash und mit pädagogisch viel zu wenig wertvollem Spielzeug ausgerüstet den Christbaum hinaufzuklettern?
- Wie jongliert man unvereinbare Termine und Vorstellungen, die durch Umstände wie Kultur, Patchwork oder – obacht, ein relativer Neuzuzüger in der Frageliste – polyamore Beziehungssysteme entstehen?
- Was, wenn sich an Weihnachten einfach nur Einsamkeit und Verlustgefühle breitmachen?
- Wie behält man als Schattenfrau oder -mann einen letzten Rest Selbstachtung und -liebe, wenn man aus logistischen Gründen am Fest der Liebe einmal mehr den Kürzeren zieht?
- Wie erklärt man der Verwandtschaft, dass das eigene Singlesein einfach nur ein Beziehungsstatus ist und keine Katastrophe?
- Oder dass es, sollte man vielleicht doch nicht frei gewählt solo unterwegs sein, kein bisschen hilft, wenn man unterm Christbaum halb besorgt und halb neugierig zum eigenen Liebesleben gegrillt wird?
Die Frageliste ist lang und düster, und die Anliegen sind drängend und komplex. Und so sitze ich jeweils vor der Tastatur oder am Telefon und frage mich: «Jesses! Wie soll ich dafür nur vernünftige Lösungen rausbrösmeln? Christkind und heilige Muttergottes, helft!» Von mir aus muss es nicht mal himmlischer Beistand sein. Ich würde auch den Input des Esels nehmen, wenn er denn etwas Vernünftiges beizusteuern hätte.
«Tut es wirklich gut, wenn man darauf hingewiesen wird, dass man doch bitte einfach tiefer stapeln möge?»
Caroline Fux, Psychologin
Weil selten etwas Konkretes von den genannten Quellen kommt, ziele ich halt auf den bewährten psychologischen Sündenbock: die überhöhte Erwartung. Das klappt fast immer, weil sich glitzernde Träume und illusorische Ziele ziemlich oft tatsächlich als Achillesfersen entpuppen.
Aber ist den Leuten damit wirklich geholfen? Tut es wirklich gut, wenn man darauf hingewiesen wird, dass man doch bitte einfach tiefer stapeln möge? Oder sind all die Tipps und Tricks einfach das Pong zum Ping, und es geht gar nicht so sehr darum, dass die Menschen wirklich etwas ändern wollen, sondern dass sie mit ihren Problemen einfach nicht allein dastehen?
Dann knickte ich ein
Vom Thema inspiriert, habe ich meinem Bruder eine Sprachnachricht geschickt, um den Puls fürs Fest in der eigenen Sippe zu fühlen. Wir haben dann in Rekordzeit festgestellt, dass das, was mich beflügelt («Mal etwas anderes probieren», «Mal jemand total Neues einladen»), ganz oben auf der Liste mit Dingen steht, die er gern vermeiden würde. Ich bin dann eingeknickt, weil mein Bruder ein Fels ist, und irgendwo drauf müssen wir diese Weihnachtskirche ja erst bauen, damit wir sie später im Dorf lassen können.
«Zugegeben: Es ist ein kleiner Trost, dass kein Schmerz ewig dauert, aber es ist immerhin etwas.»
Caroline Fux
Mein bester Rat ist und bleibt in diesen Tagen, sich daran zu erinnern, dass es irgendwie vorbeigeht. Unliebsame Verwandte ziehen irgendwann ab, Leeren füllen sich, Überhitztes kühlt sich ab, Verpasstes bekommt eine neue Chance. Zugegeben: Es ist ein kleiner Trost, dass kein Schmerz ewig dauert, aber es ist immerhin etwas.
Vielleicht sollten wir ja alle auch einfach mal drüber nachdenken, warum wir uns gegenseitig «Frohe Festtage» wünschen. Denn irgendwie steckt in diesem Wunsch ja das Bewusstsein, dass diese Zeit froh sein könnte, es aber nicht garantierterweise ist. Und in vorauseilendem Horror das Jesuskind mit dem Bade auszuschütten, bringt auch nichts. Weihnachten wird kommen und gehen. Manches wird schön sein, anderes nicht. Und das ist ein Geschenk für sich.
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1 Kommentar
Wenn ich mir die Beispiele von weihnächtlichen Problemli ansehe, das "Best-of", dann habe ich den Eindruck, das grösste Problem besteht darin, sich unbedingt und um jeden Preis ein Problem zu suchen, Motto: Weihnachtsfeiertage, Hauptsache Probleme. Und ich sehe, dass Psychologie-Kolumnistinnen entsprechend mit ein paar wenigen Klischee-08.15-Ratschlägli zurechtkommen, wenigstens die muss keine grossen Stricke zerreissen an Weihnachten, was ich ihr gönnen mag.