Was haben Bambi und Mina Inauen gemeinsam? Die Vorliebe für Tannenknospen. Konkret: die Lust auf die zarten, jungen Triebe der Gemeinen Fichte, vulgo Rottanne. «Sind sie nicht wunderschön?», fragt die 57-jährige Appenzellerin, ein Tannenzweiglein in der Hand. Wir befinden uns auf dem Hohen Hirschberg, einem Hügelzug, der sich von Appenzell hinunter ins Rheintal nach Altstätten zieht. Eine Magerwiese, in der Ferne der Alpstein samt Säntis, auf der Matte versprengte Baumgrüppchen mit Nadelhölzern. Am Vorabend hat es geregnet, die Pünt ist noch morgendlich feucht, und die Hosenstösse färben sich dunkel. Es riecht, wie nur feuchte Wiesen riechen.

Der noch graue Himmel reisst auf, vereinzelte Sonnenstrahlen kämpfen sich durch dahinziehende Wolken und putzen die letzten Wassertropfen von den Jungtrieben. «Genau so müssen sie sein: hellgrün, saftig, buschig und trotzdem noch klein.» Mit flinken Bewegungen zupft Mina Inauen die Sprösslinge vom Ast und lässt sie in die Plastiktüte an ihrem Handgelenk gleiten: «Das sieht vielleicht weniger schön aus als ein Korb, aber es ist so am praktischsten.» Wichtig ist, dass man die Ernte zu Hause sofort aus dem Sack herausnimmt, damit sie nicht schwitzt.

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Wer beim Wort Ernte an Essbares denkt, hat meistens recht, selbst im Fall der Rottanne: Der Nadelbaum hat kulinarisch einiges zu bieten. In Frankreich beispielsweise werden aus Fichtenextrakten Likör und Bonbons hergestellt. In der Schweiz, vorab in der Ostschweiz, werden Rottannentriebe zu einem leckeren Brotaufstrich verarbeitet, zu einer sogenannten Latwerge. «Latwäri», wie er im Dialekt heisst, ist eingedickter Saft, der die Konsistenz von Honig aufweist. Das Rezept für Tannenschoss-Latwerge: Der Saft von eineinhalb Zitronen sowie 300 Gramm Schosse werden in eineinhalb Liter Wasser aufgekocht und über Nacht stehen gelassen. Am nächsten Tag werden jeweils fünf Deziliter der geseihten Flüssigkeit mit einem halben Kilo Zucker mindestens 20 Minuten eingekocht. «Man darf auf keinen Fall mehr als einen halben Liter Saft aufs Mal einkochen. Sonst wird die Latwerge nämlich nicht dick», erklärt Mina Inauen. Im Laufe des Kochprozesses wandelt sich die Farbe der Flüssigkeit von einem zarten Gletschergrün ins Goldbraune. Angesichts von Färbung und Konsistenz wundert es nicht, dass viele Latwerge auch «Hung», also Honig, nennen.

Jungtannen werden geschont
Mina Inauen ist Lehrerin für textiles Werken und hobbymässig fast schon eine «Kräuterhexe»: In ihrer Freizeit verarbeitet sie verschiedenste Pflanzen zu Nützlichem: Ringelblumen zu Hautsalbe, Johanniskraut zu Beruhigungstropfen und Tannenschosse zu Hustensirup. Tatsächlich enthalten die jungen Triebe der Fichte neben Vitamin C auch ätherische Öle, die auswurf- und durchblutungsfördernd sowie schweisstreibend und schmerzlindernd wirken. Fichtenessenzen kommen etwa bei Atemwegserkrankungen, starkem Husten, Asthma, Stoffwechselstörungen und Rheuma zur Anwendung, Tee bei Katarrh und Muskelkater; Fichtenkohle bei Magen-Darm-Infektionen und Vergiftungen. Sie kann nicht verstehen, dass nicht viel mehr Menschen Tannenschössli pflücken gehen.

Es ist ausgesprochen beruhigend, über die farbenfrohe Wiese von Tanne zu Tanne zu wandeln. Den Duft der von der Sonnenwärme freigesetzten ätherischen Öle einzuatmen. Die noch weichen, zarten Tannennadeln in der Hand und den Wind auf der Haut zu spüren. «Das ischt eefach guet för d Gsondheet ond förs Gmüet. Ond zomm Schloss het me o no Hung», sagt Mina Inauen in ihrem breiten Appenzeller Dialekt.

Nach zwei Stunden intensiven, aber wählerischen Pflückens - etliche der Triebe sind schon zu gross, und Jungtannen gilt es zu schonen - bringen unsere Säcke insgesamt 1,8 Kilo erstklassige Schosse auf die Waage, was einige Kilo Latwerge und einige Liter Sirup ergeben wird. Trotzdem: Mitleid mit den Tannen, die von der Appenzellerin bepflückt werden, ist nicht nötig. Zwar werden jene Äste, die ihrer Triebe beraubt wurden, dieses Jahr nicht wachsen. Aber: «Kritisch wäre es nur für Jungpflanzen und auch dann nur, wenn man jedes Jahr alle Triebe abnehmen würde», erklärt Mina Inauen. Entgegen der landläufigen Meinung ist es auch keineswegs verboten, Schösslinge zu pflücken: «Eine gesetzliche Grundlage, die das Pflücken von Tannenschossen verbietet, gibt es nicht», bestätigt Peter Raschle, Oberförster des Kantons Appenzell Innerrhoden.

Im Gegensatz zu Mina Inauen betreibt der Gossauer Felix Eberle die Latwerge-Kocherei nicht als Hobby, sondern industriell - und zwar seit 1987. Damals übernahm die Firma Gebrüder Eberle die Marke Eisenhut, eine alteingesessene Ostschweizer Konfi-Kocherei. Bis zu 30 Tonnen Tannenschoss-Latwerge stellt Felix, der mittlere der drei Eberle-Brüder, jährlich her - nebst weiteren Sorten wie Holunder-, Wacholder- und Preiselbeer-Latwerge. Im Gegensatz zu Mina Inauen pflückt er die Tannenschösslinge allerdings nicht selber. Konzentrat heisst hier die Losung. «Früher, noch vor 15 Jahren, hatten wir die Schösslinge aus dem Toggenburg und produzierten das Extrakt selber», erzählt er. Heute stammt der Rohstoff in Konzentratform aus Osteuropa. «Es ist zu aufwendig, mit frischen Trieben zu arbeiten, zumal sie leicht verderben», sagt Felix Eberle, während er von der braunen Flüssigkeit abmisst, die in einem grossen Plastikbidon lagert. In einem 500-Gramm-Konfiglas fertiger Latwerge steckt der Saft von zehn Gramm Schösslingen, was aufs Jahr einen Verbrauch von stattlichen 600 Kilo ergäbe. Ein Fertigprodukt ist da nicht nur billiger, sondern auch praktischer. «Zudem ist die Qualität stabil, und das Ergebnis schmeckt immer gleich», sagt Eberle. Unverdünnt schmeckt das Konzentrat wie der Fichtenbadezusatz aus der Kindheit. Glücklicherweise hat die fertige Latwerge damit nichts gemein: Nur ganz zart schmeckt man die Fichte, der Gesamteindruck ist eher blumig.

Es riecht wie in einer Schreinerei
Neben dem Tannenkonzentrat kommen Glukose, Zitronensäure, Karamellzucker für die Farbe, Rohrzucker aus Mauritius sowie Trauben- und Rübenzucker in die Kochpfanne. Bald schon blubbert es im riesigen Stahlkessel mit 600 Litern Fassungsvermögen. Im Fabrikraum riecht es nun wie in einer Schreinerei. Es ist heiss. Fast schon klebrig scheint die zuckergeschwängerte Luft. Während die Latwerge kocht, erzählt Eberle von sich. Davon, dass er schon als Kind gerne gekocht hat. Dass er, der gelernte Autoverkäufer, gerne, ja eigentlich viel lieber Latwerge kocht. Kurz: dass er damit zufrieden ist, wies ist.

Inzwischen ist die Latwerge - «ein dankbares, problemloses Produkt» - fertig. Eberle giesst die 600 Liter brühend heisser, dickflüssiger Sauce in eine viereckige Wanne, aus der die Masse in die Abfüllerei übergeleitet wird. Die Hydraulik schnaubt, das Klicken und Klirren von Gläsern und Deckeln erfüllt den Raum. Mittlerweile ist es tropisch heiss. Zwei Frauen, beide seit über zehn Jahren dabei, bedienen die kurze Produktionsstrasse: Eine sitzt beim «Deckele», muss, mit Handschuhen bewehrt, die heissen Marmeladegläser mit Deckeln bestücken, während die andere die fertigen Gläser vom Band nimmt und zum Versand bereitstellt. Derweil füllt der Chef Gläser auf die Führungsspirale, die das Fliessband speist. Routiniert greift er sich mit jeder Hand fünf leere Gläser von der Palette und dreht sie flink um. «Falls aus der Produktion mal Scherben drin wären», erklärt er. «Das passiert zwar fast nie, aber es wäre unverzeihlich, wenn jemand beim Frühstück in unserer Latwerge einen Glassplitter finden würde.» Wo er recht hat, hat er recht.

Rezept: Tannenschoss-Latwerge-Parfait

Zutaten (für vier Personen) und Zubereitung:

  • 2 Eigelb und 60 Gramm Tannenschoss-Latwerge schaumig schlagen.
  • 1 Esslöffel Kirsch dazugeben und gut mischen.
  • 2,5 Deziliter Vollrahm schlagen und unter die Eigelbmasse heben.
  • 2 Eiweiss steif schlagen und ebenfalls vorsichtig unterheben.
  • Die Masse für mindestens vier Stunden in den Tiefkühler geben. Mit blättrig geschnittenen, kurz in Latwerge marinierten Erdbeeren servieren.