Schnecken ohne Ende
Auf seinem Zuchtbetrieb im Freiamt beherbergt Melchior Kiser Millionen von Weinbergschnecken.Bald sind sie alt genug, um eingedost den Weg in Gourmetküchen zu finden.
Veröffentlicht am 23. Juni 2008 - 13:10 Uhr
Es gibt die Ananas-Diät, die Apfelessig-Diät und die Kartoffel-Diät. Die Vollkorn-Diät und die Kohlsuppen-Diät. Nur die Schnecken-Diät gibt es nicht. «Dabei gibt es kaum ein magereres Fleisch als das der Weinbergschnecke. Es enthält nur 1,6 Prozent Fett.» Man glaubt es ihm gern, dem Melk. Der drahtige, fast schon hagere Mann heisst eigentlich Melchior Kiser und ist Schneckenzüchter. Aus Leidenschaft: «Bis jetzt ist es ein Hobby, mein Geld verdiene ich als Lohnarbeiter und Bauer.»
Am 24. Mai vor vier Jahren setzte Kiser 40'000 Weinbergschnecken, wissenschaftlich Helix pomatia, auf einem Blätz Land von einer Hektare aus. Mittlerweile tummeln sich Millionen von Schnecken auf dem Areal, das ordentlicher aussieht als ein preussischer Gemüsegarten: schnurgerade die mit Gewebebahnen ausgelegten Gehwege, unkrautfrei die gekiesten Ränder, spiegelglänzend die CDs, die räuberisches Federvieh fernhalten sollen.
Es ist ein heisser, trockener Tag in Aettenschwil im Freiamt, die Wirbellosen haben sich in ihre Häuschen zurückgezogen. Kiser beugt sich über einen der Textilzäune und nimmt vorsichtig eine Schnecke vom Geflecht, die sich dort festgesetzt hat und nun der erbarmungslosen Sonne ausgesetzt ist. «Gang abe, susch chunsch z heiss über», sagt der 63-Jährige und legt das Tier sanft ins dichte Grün: Bindesalat, Raps und Weissklee bedecken die Schneckenweiden wie hochflorige Flokati-Teppiche. «Sie hören zwar nichts, spüren aber, wie man mit ihnen umgeht», sagt der Schneckenvater. «Und wenn sie sich ärgern, sondern sie Schaum ab.» Man glaubt ihm, dass er Schnecken mag, nicht nur auf dem Teller.
Auch die Pharma ist interessiert
Bereits die Römer - das belegen Funde von Küchenabfällen - ergänzten ihren Speiseplan mit den Wirbellosen. In Mitteleuropa wurden Weinbergschnecken vor allem in Klöstern verspeist: Da sie laut Bibel weder als Fleisch noch als Fisch gelten, waren sie den Mönchen während der Fastenzeit willkommene Abwechslung. Den Soldaten, die unter Napoleon gen Moskau zogen, gab man Schnecken mit Kalkdeckeln, ihrem natürlichen Winterschutz, als haltbaren und eiweissreichen Proviant mit.
Heute gilt Helix pomatia als Delikatesse, in Deutschland ist sie gar als «schwäbische Auster» bekannt. Und wie es sich für Delikatessen gehört, sind sie rar: Gourmets und Gourmands hatten sie fast ausgerottet. Seit den siebziger Jahren steht sie auf der roten Liste der gefährdeten Arten und damit unter strengem Schutz. Es ist verboten, sie in freier Natur zu sammeln. Was hierzulande auf den Tisch kommt, ist fast ausschliesslich ausländische Ware, Zuchtschnecken aus Frankreich und Italien sowie «Wildfang» aus Ost- und Südosteuropa, wo Weinbergschnecken nicht geschützt sind. «Beim Wildfang weiss man halt nie, was und wo sie gefressen haben», sagt Kiser. «Und so, wie die es dort mit dem Umweltschutz halten...» Er jedenfalls verzichte völlig auf Chemie jedwelcher Art. Nicht nur weil die Schnecken zum Verzehr gedacht sind, sondern weil sich auch die Pharmaindustrie für sie respektive ihren Schleim interessiert: Krebsleiden, Epilepsie und Schmerzen etwa sind Gebiete, in denen geforscht wird. Stolz zeigt Kiser seine Hände, deren Haut für einen Landwirt erstaunlich glatt und zart ist: «Das chunt vo de Schnägge und irem Schliim.»
Zwar sind Weinbergschnecken eher standorttreu, rennen ihrem Bauern also nicht weg. Dennoch gibt es viel zu tun: Immer wieder müssen sie nach Grösse sortiert und umgelegt werden; die Wege müssen gejätet, die Netze kontrolliert und in Trockenperioden die Felder bewässert werden - und zur Erntezeit heisst es einsammeln. Bücken gehört zum Business des Schneckenzüchters.
Da es verboten ist, wilde Weinbergschnecken zu sammeln, sind Neuzüchter auf andere Quellen für ihre Zuchtschnecken angewiesen. Auf das deutsche Institut für Schneckenzucht in Nersingen etwa. Allerdings kommen nur Personen in Betracht, die dort eine Schulung in Sachen Schneckenzucht durchlaufen haben. «Das ist auch gut so», sagt Kiser, «Schnecken sind sehr empfindlich, man muss gut sein zu ihnen.» Und ähnlich wie beim Wein habe der Boden, quasi das Terroir, Einfluss auf den Geschmack, behauptet Kiser. Denn je nach Bodenqualität enthält das Futter der Schnecken andere Mineralstoffe.
Alles bio: Die Schnecken ernähren sich von Salat, Raps und Klee . die Zucht kommt ganz ohne Chemie aus.
Noch floriert Kisers Geschäft mit den Schnecken nicht, allerdings nur, weil er noch zuwarten möchte, bis seine Zucht dafür bereit ist. Helix pomatia wächst gemächlich: Wenn sie zwei Jahre alt ist, beträgt ihr Umfang erst 2,5 Zentimeter. Und erst mit drei Jahren sind die Tiere geschlechtsreif. «Es lohnt sich, Geduld zu haben. Ich bin nicht aufs schnelle Geld aus», sagt Kiser und bückt sich wieder einmal, um einen Ausreisser von der Netzkante zu pflücken und drei weitere Tiere ins schattenspendende Grün zurückzubugsieren. Lediglich zwei Restaurants beliefert er bislang, eins davon ist das Grand Hotel Quellenhof in Bad Ragaz. Wenn sie weder dem dortigen Sternekoch Roland Schmid noch sonst einem Schneckenhungrigen in die Fänge geraten, können Weinbergschnecken bis zu 30 Jahre alt werden.
«Sie müssen nicht leiden»
Kiser will seine Schnecken nicht wie die meisten als Tiefkühlware im Häuschen mit grüner Kräuterbutter zugedeckelt an den Gourmet bringen. Er wird sie dereinst als Halbfertigprodukt in der Konservendose vertreiben. Zuerst ist für die Schnecken wie weiland bei den Mönchen Fasten angesagt: Sie werden ein paar Tage auf Diät gesetzt, damit sich ihr Darm entleert. Dann gehts ab in den Kochtopf. «Das Wasser muss unbedingt kochen, dann gehts sekundenschnell, und sie müssen nicht leiden», sagt Melk, der Schneckenfreund, während er eines seiner Millionen Tiere auf seiner Hand herumkriechen lässt. «Gseend Si, die isch verruckt» - das Tier sondert Schaum ab, als wüsste es, worüber gerade gesprochen wird.
Nachdem sie eineinhalb Stunden in einer frisch angesetzten Court-Bouillon gekocht haben, kommen sie in die Dose. Und finden Verwendung in Suppen, Pastetchen oder Salaten. Die leeren Häuschen verkauft Kiser an Bastelhäuser und Floristen.
Und wie isst Melk, der Schnecken-Aficionado, sie am liebsten? Vom Grill, nur gesalzen und gepfeffert. «Und sicher nicht mit dieser Kräuterbutter. Wieso soll man so ein mageres Fleisch auffetten?»
Schneckensuppe mit Pilzen Rezept für vier Personen | |
125 Gramm Räucherspeckwürfel 1 Zwiebel 2 Knoblauchzehen (grob gehackt) 1⁄2 Bund Suppengrün 1 Lorbeerblatt | Speckwürfel anbraten, danach die restlichen Zutaten dazugeben und glasig dünsten. |
1 Esslöffel Mehl | kurz mitrösten. |
1,5 Deziliter trockener Weisswein | Alles 40 Minuten leise kochen lassen. Lorbeer rausnehmen und die Suppe pürieren. |
1 Becher Saucenrahm 125 Gramm Champignons (geschnitten) 4 Esslöffel Schnecken aus der Dose | 15 Minuten mitkochen. |
Mit Pfeffer, Salz, wenig Muskatnuss, abgeschabter Zitronenschale, einer Prise Zucker abschmecken und mit gehacktem Schnittlauch und gerösteten Brotwürfeln garnieren. |