Zweifelhafte Medizinmänner
Die Schulmedizin sei eine Irrlehre – dies behauptet die «Germanische Neue Medizin». Ihre Kernbotschaft: Krebs sei heilbar, wenn man Ärzte meide. Ein gefährlicher Unfug.
Veröffentlicht am 14. Februar 2006 - 16:05 Uhr
«Klatschen Sie mal in die Hände!» Harald Baumann mustert seinen Klienten. Ich führe die gewünschte Bewegung aus. «LH», notiert er dann. «Sie haben die linke Hand oben. Sie sind also linksorientiert. Das ist schon mal wichtig zu wissen.»
Harald Baumann ist ein Anhänger der «Germanischen Neuen Medizin». Diese Lehre verkündet, Krebs sei heilbar – vorausgesetzt, der Patient lasse sich von der Schulmedizin nicht «in die Irre führen».
Wir sitzen in Baumanns Arbeitszimmer in Braunau TG. Meine Gesundheit ist intakt, aber ich behaupte, an Lungenkrebs zu leiden. Die mitgebrachten Röntgenbilder sind von einem schwer kranken Bekannten. Ich trage dessen Namen.
«Krebs hat mit Rauchen nichts zu tun», erklärt Baumann freundlich. «Krebserzeugend ist nicht Tabak, sondern die perversen, Panik erzeugenden Warnungen auf den Zigarettenpackungen.» Die «Neue Medizin» sagt, Zellwucherung würde durch ein tief greifendes, erschütterndes Erlebnis ausgelöst – den «hochakuten Konfliktschock». Das ist «tausendfach, ja hunderttausendfach bewiesen», so Baumann.
Er mustert «meine» Röntgenbilder. Am Lichtpult prangt ein Kleber: «I love Neue Medizin». «Ihre Leber verrät einen Verhungerungskonflikt», sagt Baumann. «Das bedeutet, dass Sie einmal eine Rechnung nicht bezahlen konnten. Oder so.» Und die Niere «links – ehm, rechts – nein: links» verrate, dass ich unter starkem Heimweh litte: «Ein Flüchtlingsproblem, sozusagen.»
Und was ist vom kinderfaustgrossen Tumor in «meiner» Lunge zu halten? «Den husten Sie raus. Problemlos. Das ist völlig im Bereich des Normalen.» Baumanns Rat: «Traktieren Sie Ihr Unterbewusstsein, so dass es auf Gesundheit schaltet.»
Die Lehre stützt sich auf den deutschen Arzt Ryke Geerd Hamer: Dessen «Germanische Neue Medizin», die er in zahlreichen Büchern beschwört, kreist um den «hochakuten Konfliktschock». Hamer selbst muss einen solchen erlitten haben, als sein Sohn 1978 gewaltsam starb. Wenig später wurde bei dem trauernden Vater Hodenkrebs diagnostiziert. Er genas – und entdeckte, was er nun «die eiserne Regel des Krebs» nannte. Danach ist Krebs ausschliesslich eine Krankheit der Seele. Sie entspricht «einem Kurzschluss im Gehirn», ausgelöst durch einen herben Verlust, durch akute Todesangst oder durch die Bedrohung des eigenen Reviers. Erkennt der Patient sein Problem und gelingt es ihm, dieses zu lösen, verschwindet der Tumor – ohne Chemie oder Bestrahlungen.
Der Doktor praktizierte unbewilligt
Seine Erkenntnisse «stellen die gesamte Medizin auf den Kopf», wie Hamer erklärt. «Alle Krankheiten, die es überhaupt gibt, verlaufen nach den Gesetzmässigkeiten der Neuen Medizin!»
Doktor Hamer wurde 1986 die Praxisbewilligung entzogen. Seit 2004 sitzt er in Frankreich in Haft. Er hatte sich nicht an sein Berufsverbot gehalten.
Harald Baumann in Braunau, der «lange Zeit auf dem Bau arbeitete, dann Übersetzer» war, bewohnt eine Villa auf einem Anwesen von knapp 3000 Quadratmetern. Seine Partnerin ist die Naturärztin Arlette Büchel. In Appenzell Ausserrhoden führten die beiden früher eine Gemeinschaftspraxis; Harald Baumann arbeitete, wie Büchel via Homepage erklärt, «zur vollen Befriedigung unter meiner Aufsicht». Seit November 2005 wirken die beiden im Thurgau. Büchels heutige Rolle ist unklar; weder sie noch Baumann haben hier eine Praxisbewilligung.
Krude Thesen über den Krebs
Baumann empfängt «pro Tag zirka zwei» Ratsuchende, die ihn für 150 Franken pro Stunde in der Regel «zwei- bis dreimal aufsuchen». Daneben hält er seit elf Jahren Referate in der ganzen Schweiz. Titel seiner Vortragsreihe: «Ursache und Heilung aller Krankheiten». Angelpunkt: Hamers hochakuter Konfliktschock.
«In meiner Kartei habe ich über 6000 Schweizer Adressen von Leuten, die sich für die Germanische Neue Medizin interessieren», erklärt Baumann vor seinem Publikum in Wollerau SZ. Auf der Leinwand leuchten bunt animierte Thesen. Baumann, im Halbdunkel, spricht bald leise, bald brüllt er: «Es gibt keine Metastasen, so wenig wie es Hirntumoren gibt!» – «Ohne Ärzte wären wir viel gesünder!» Der Referent hebt beide Arme: «Aids wurde erfunden, um den afrikanischen Kontinent auszuradieren!» Für sämtliche Mediziner gelte: «Viel Irrtum, wenig Wissen, ein Körnchen Wahrheit!»
«Einer gegen alle» heisst die Autobiografie von Ryke Geerd Hamer. Bereits 1984, in seinem ersten Buch, präsentierte sich der Arzt als Verfolgter. Er weiss auch, wer die Verbreitung seiner Germanischen Neuen Medizin verhindert: die Juden. Sie hätten eine beispiellose «Erkenntnisunterdrückungskampagne» entwickelt, sagt der Arzt. Seine Theorie gipfelt in der Behauptung, die Chemotherapie sei «aus Giftgas entwickelt und der Schulmedizin aufgezwungen» worden.
In Deutschland sind zahlreiche Strafverfahren gegen ihn hängig – die deutsche Krebsgesellschaft bringt Ryke Geerd Hamer mit über 20 Todesfällen in Verbindung. In der Schweiz ist vorerst ein Fall bekannt, der einen solchen Verdacht ebenfalls nahe legt; ein Strafverfahren wurde allerdings nicht eingeleitet. Umgekehrt drohten Anhänger von Hamer Schweizer Onkologen kürzlich mit einer Strafklage, falls sie ihren Patienten dessen «bahnbrechende Lehre» vorenthielten.
Antisemitische Parolen sind von Harald Baumann nicht zu hören. Gegen seine Vortragstätigkeit besteht juristisch kaum eine Handhabe: Laut dem Zürcher Strafrechtler Daniel Jositsch ist «grundsätzlich das Verbreiten von Unsinn nicht strafbar». Anders sieht es freilich Christoph Rochlitz, leitender Arzt Onkologie am Universitätsspital Basel: «Vor dieser Lehre muss dringend gewarnt werden. Es handelt sich um einen primitiven Verschnitt aus uralten, längst widerlegten Theorien.» Bei der Lektüre der im Internet verbreiteten Thesen habe er sich oft gefragt, ob sich hier jemand einen üblen Scherz erlaube.
Kantonsarzt will der Sache nachgehen
Max Dössegger, Thurgauer Kantonsarzt, kennt Hamers Lehre nicht. Er versichert aber mit Nachdruck, «der Sache nachzugehen». Auf die verdeckte Recherche des Beobachters und den «falschen Kranken» reagiert Harald Baumann gelassen. «Die Presse nehme ich längst nicht mehr ernst», erklärt er und lacht.