Von wegen tote Hose
Ältere Menschen sind im Bett weit aktiver, als man gemeinhin annimmt. Schwierigkeiten sind oft biologisch bedingt. Die Bereitschaft, Neues zu lernen, erweist sich als grosse Chance.
Veröffentlicht am 8. September 2006 - 14:26 Uhr
«Es braucht oft lange Zeit, bis ein Mann ein Weib zur vollen Liebestüchtigkeit erzogen hat. Ob die Frau kalt bleibt oder mitfühlt, ist für den Mann beileibe nicht unwichtig.» Die Merksätze stammen aus einer Zeit, da die Vollkommenheit noch lockte - jedenfalls in der Ehe: «Die vollkommene Ehe», das Werk des Gynäkologen Theodoor H. van de Velde, erreichte gegen 50 Auflagen. In der katholischen Kirche stand es auf der Liste der verbotenen Bücher, und es galt in zahlreichen Ländern als Pornografie.
Knapp 80 Jahre sind seither verstrichen. Die heutigen Senioren wuchsen auf in der Zeit der Befreiung. Die Werte haben sich gründlich verändert. Zahllose Tabus gelten heute als überwunden; sexuelle Not, Vorurteile und Vorlieben sind Gegenstand regelmässiger Datenerhebungen.
Im Alter zufriedener mit Sexualleben
Eine der jüngsten Umfragen hält fest: Heutige Seniorinnen und Senioren wollen und haben regelmässig Sex. Ältere Menschen sind im Bett weit aktiver, als man gemeinhin annimmt. Die deutsche Umfrage von 2005 dürfte auch für die Schweiz gelten. Waren in den siebziger Jahren noch 50 Prozent der Senioren sexuell aktiv, sind es heute etwa 70 Prozent. 50- bis 70-jährige Männer sind mit ihrem Sexualleben sogar zufriedener als die Gruppe der 35- bis 50-Jährigen. «Älterwerden für Männer heisst: Abschied vom Sex als Leistung; hin zur Entdeckung von Sinnlichkeit», sagt Peter Gehrig, Arzt und Sexologe aus Zürich. «Für Frauen ist das Älterwerden manchmal der Abschied vom Sex als Geschenk für ihren Partner. Sie können das Geschenk endlich auch für sich selbst entdecken.»
Untersuchungen haben gezeigt: 80 Prozent der Menschen mit sexuellen Problemen sind psychisch gesund. Das gilt für Männer und Frauen. Die häufigsten Probleme der Älteren sind - wen überrascht es - Orgasmusprobleme bei der Frau und Erektionsstörungen beim Mann.
«Erektionen verändern sich mit dem Alter», sagt Sexologe Gehrig: «Sie werden zur variablen Grösse. Wer darob in Panik gerät, hat es schwer, die Erregung wieder zurückzugewinnen.» Die Erektion ist eine Säule der männlichen Identität. Bleibt sie aus, könne dies «äusserst bedrohlich» werden, sagt Gehrig.
Es kommt zu einem Phänomen, das man in Frankreich «le démon du midi» nennt - den Dämon des mittleren Alters. Die Ehefrau entdeckt, dass ihr Mann seine Lust mithilfe von Pornobildern zu befriedigen sucht. Das eheliche Liebesleben hat sich verflüchtigt. «Er ist zum Schwein geworden», heisst es dann. Was tun? «Man kann das durchaus anders sehen», sagt Gehrig: «Der Mann versucht verzweifelt, Verantwortung für seine Lust zu übernehmen.» Er könnte dies auch, indem er lernt, «anders mit seinem Körper, seiner Lust umzugehen».
Wie man sich selber neu entdeckt und so auch zu einer erfüllten Paarsexualität beiträgt, können Männer und Frauen bei Gehrig lernen. Er arbeitet mit Stimulationsübungen, die seine Klienten selbstständig ausführen. Das zugrunde liegende Modell, erarbeitet vom kanadischen Forscher Jean-Yves Desjardins, hat zwei Bezugspunkte. Erstens: die Selbstbefriedigung. Zweitens: das Lernen. Peter Gehrig: «Die kindliche Neugier trieb die meisten Menschen zu einem ersten Lernschritt. ‹So verschaffe ich mir selbst sexuelle Entspannung›, hiess dieser. Selbstbefriedigung ist der erste und sicherste Weg zur Entspannung. Das ist absolut in Ordnung.»
Die Gewohnheiten aber, die sich bei der Selbstbefriedigung einspielen, können partnerorientierte Lust mit zunehmendem Alter beeinträchtigen. Frauen wie Männer befriedigen sich oft unter Aufbietung von Druck - gelegentlich unter dem Diktat der Eile. Die Wahrnehmung ist auf das Genital konzentriert. Das kann zur Folge haben, dass Berührungen des Partners, da ungewohnt, nicht zur Befriedigung führen. «Durch die Stimulierung des ganzen eigenen Körpers kann die eigene Sinnlichkeit entdeckt werden - und diese kommt auch dem Partner zugute», sagt Gehrig.
Über bewusste Selbstbefriedigung Sensibilität entwickeln: ein Lernprozess für Mann und Frau, die wieder zueinanderfinden wollen. In der Sprache von Jean-Yves Desjardins: Der archaische oder mechanische Erregungsmodus kann durch den ganzheitlichen, wellenförmigen wesentlich bereichert werden.
«Ja schau dich mal im Spiegel an!»
Im Lernprozess werden Partner auch altersbedingt immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt. In den Wechseljahren wird die Durchblutung der Frau schwächer, und es kann länger dauern, bis sie stimuliert ist. Peter Gehrig: «Wenn der Mann darum bangt, seine Erektion zu verlieren, und deshalb schnell eindringt, beginnt ein Teufelskreis: Die Frau ist noch nicht bereit - er erschlafft wieder. Schliesslich gibt man auf.» Unheilvoll auch diese Variante: Die Frau lässt seine Lust über sich ergehen - «mit ein bisschen Schmerzen, das muss jetzt halt sein». Auch das ist «meist der Anfang vom Ende», so Gehrig.
Wichtige Fähigkeit für eine erfüllte Paarsexualität ist das Verführen. Gehrig: «In der Beziehung aber grassieren nach einer gewissen Zeit oft Vorwürfe. Er sagt: ‹Schon drei Monate keinen Sex mehr!› Sie erwidert: ‹Ja schau dich mal im Spiegel an!› Vorwürfe sind das Gift der Verführung. Darunter leiden sehr viele Paare.»
Erektionsstörungen, Orgasmusprobleme, Vorwürfe - und die wachsende Müdigkeit. Der Katalog der Schwierigkeiten kann entmutigen. Gehrig arbeitet wenig an Beziehungen; für ihn stehen Einzelgespräche im Zentrum. Er vergleicht Sexualität mit Musik: «Jeder übt auf seinem Instrument, das Zusammenspiel muss nicht perfekt sein. Man kann auch Spass an der Unvollkommenheit haben. Humor beim Sex: Ist das nicht der Vorzug des Alters?»
Wilhelm Schmid, freier Philosoph, Berlin, spricht einen weiteren Vorzug an. Seinen Vortrag «Sexualität im Alter» beendete er mit dem Satz: «Es gibt ein Leben und ein Glück auch ohne Sexualität. Das Alter ist vielleicht die Zeit, sich die Freiheit dazu zu nehmen.»