Träume: «Den Tod meines Sohnes habe ich vorausgesehen»
Warum musste mein Sohn sterben? Habe ich die Vorzeichen nicht richtig erkannt?
Veröffentlicht am 4. April 2001 - 00:00 Uhr
Das Problem:
«Vor sechs Jahren verlor ich meinen Sohn nach einem Arztfehler. Zuvor verfolgte mich wochenlang immer der gleiche Traum: Auf einer Reise betrat ich einen Platz mit einer Kirche, die Glocken läuteten. Danach waren schwarz gekleidete Menschen in meiner Wohnung. Genau so wars auch bei der Beerdigung meines Sohnes – doch das konnte ich nicht im Voraus wissen! Seither habe ich Angst vor Träumen. Auch den Verlust habe ich noch nicht verarbeitet. Ich frage immer nach dem Warum.»
Maria F.
Koni Rohner, Psychologe FSP:
Meist hat der Tod im Traum eine symbolische Bedeutung: Er bedeutet Wandlung. Aber Sie erlebten offenbar eine Präkognition – eine Vorahnung des Todes Ihres Sohnes. Das braucht Ihnen keine Angst zu machen. Im Gegenteil: Es kann Ihnen zeigen, dass es der Wille Gottes oder Schicksal war, dass Ihr Kind sterben musste. Diese wissenschaftlich nicht erklärbare Erfahrung kann auch Ehrfurcht und ein Gefühl der Demut auslösen.
So weit sind Sie indes noch nicht. Solange Sie nach dem Warum fragen, glauben Sie, jemand hätte den Schicksalsschlag verhindern können. Die Versuchung, sich in diese Richtung zu verrennen, ist besonders gross, weil Ihr Sohn offenbar nach einem Arztfehler starb. Es ist wichtig und richtig, dass Juristen überprüfen, ob ein Verschulden vorliegt, und eine allfällige Strafe fällen. Das ist die eine Ebene. Auf der anderen liegen Ihre Gefühle, und ich glaube nicht, dass Ihnen die Bestrafung eines Schuldigen wirklich anhaltenden inneren Frieden gibt.
Ich weiss, wie schwierig es ist, den Tod eines Kindes zu verarbeiten. In der Trauerarbeit müssen Sie durch sämtliche Gefühle hindurchgehen: Schmerz, Verlassenheitsgefühl, Angst – und Wut, nicht zuletzt auf den Arzt. Aber Sie sollten dort nicht stehen bleiben. Alle Gefühle lösen sich auf, wenn man sie zulässt – und wenn die Wunde gereinigt ist, kann sie heilen. Ich empfehle Ihnen deshalb dringend, eine Psychotherapie und eine Selbsthilfegruppe für verwaiste Eltern oder ein Trauerseminar zu besuchen.
Statt hadernd nach dem Warum zu suchen, könnte man sich auch fragen: «Warum nicht?» Der Tod ist Teil des Lebens. Jeder Mensch muss sterben – der eine früh, der andere spät. Selbstverständlich ändert das nichts daran, dass einen der Todesfall eines nahen Menschen von Grund auf erschüttert. Unsere Seele ist aber glücklicherweise so eingerichtet, dass sie auch nach einem schweren Verlust heilen kann. Das kann lange dauern und auf vielen Wegen geschehen, und möglicherweise bleibt auch eine Narbe zurück. Aber die braucht nicht mehr zu schmerzen.
Was Ihre Angst vor dem Träumen angeht: Uns alle kann jederzeit ein Schicksalsschlag treffen – ob wir vorher davon träumen oder nicht. Ich habe übrigens vor vielen Jahren beim Tod meines ersten Sohnes ebenfalls deutliche Vorahnungen gehabt und durfte sie als Geschenk, nicht als Bedrohung empfinden.