Die Frau, die Senioren bewegt
Tanzen tut gut – auch im Alter. Die 89-jährige Performancekünstlerin Anna Halprin zeigt, wie befreiend es sein kann, Gefühle mit dem Körper auszudrücken.
Veröffentlicht am 1. Februar 2010 - 08:58 Uhr
Anna Halprin klatscht inmitten von 50 tanzenden Senioren im Rhythmus einer Trommel. Die zierliche 89-Jährige gibt klare Anweisungen: «Und jetzt führen die Damen die Herren.» Die Senioren halten sich zaghaft an den Händen, Erinnerungen an frühere Zeiten kommen hoch. Auch wenn sie sich heute mehr schaukelnd als schwingend im Rhythmus bewegen, steht allen die Freude ins Gesicht geschrieben. Der Tanzworkshop der Tanzpionierin aus Kalifornien in der Altersresidenz Tertianum in Zürich-Höngg ist ein voller Erfolg.
Zurzeit läuft ein Dokumentarfilm über Anna Halprin in den Schweizer Kinos: «Breath Made Visible» von Regisseur Ruedi Gerber. Hier der Trailer davon:
Anna Halprin zählt in den USA zu den bedeutendsten Künstlerinnen des modernen Tanzes. Seit den fünfziger Jahren beeinflusste sie ganze Generationen von Tänzern und Choreographen. Sie revolutionierte den Tanz und löste mit ihren avantgardistischen Darbietungen 1965 einen Skandal aus, als sich die Tänzer in ihrem Stück «Parades and Changes» auf der Bühne splitternackt auszogen und in hautfarbenes Packpapier einhüllten.
Halprins künstlerische Karriere erfuhr eine dramatische Wende, als sie 50 war. Sie erkrankte an Darmkrebs und verabschiedete sich von der Bühne. Zu Hause in den Hügeln von San Francisco tanzte sie jedoch weiter. «Ich habe mir den Weg zur Heilung freigetanzt», erklärt sie heute. Diese Erfahrung lenkte Halprins Kreativität in eine völlig neue Richtung: Tanz als Heilungsritual. Über die Jahre hat sie eine vielschichtige Methode entwickelt, die sie seither in Workshops weitergibt. Ein Dokumentarfilm über sie, gemacht vom Schweizer Ruedi Gerber, ist kürzlich in den Kinos angelaufen. Seit fünf Jahren tanzt sie auch mit älteren Menschen. «Ich wollte mit Leuten zusammenarbeiten, die in derselben Lebensphase stehen und dieselben Fragen haben wie ich», sagt sie. So habe sie das Projekt «Seniors Rocking» ins Leben gerufen. Dass Tanz keine Altersgrenze kennt, stellt Anna Halprin auch heute unter Beweis. Sie beginnt mit einfachen Bewegungs- und Atemübungen, zuerst sitzend, dann stehend. Ein Musiker mit Trommel und Flöte spielt sanfte Rhythmen und Melodien. Halprin fordert die Anwesenden auf, den Puls zu fühlen und ganz ruhig ein- und auszuatmen. Als Nächstes sollen alle ihre Augen schliessen und sich einen schönen Ort vorstellen. Sofort verändert sich die Stimmung, die letzten Hemmungen werden abgelegt, Gesichter nehmen weichere Formen an, die Mundwinkel zeigen nach oben. Manchem Teilnehmer sieht man förmlich an, wie er auf einer Blumenwiese liegt und heiter in den Himmel blickt. Nach ein paar Minuten holt Anna Halprin die Senioren in die Realität zurück. Während sie miteinander lachen, sagt Halprin: «Gratuliere, das war euer erster Tanz.» Was unterscheidet denn Halprins Methode von herkömmlichen Bewegungstherapien? «Ganz einfach», sagt sie, «mein Konzept macht Spass.» Die Musik, die Bewegung und der Körperkontakt würden jeden fröhlich stimmen. Sie könne sich noch genau an ihre Mutter erinnern, als diese mit 90 Jahren in die Bewegungstherapie musste. Sie habe sich immer darüber beklagt, wie langweilig diese Übungen seien. Diese Aussage scheint sich auch in der Altersresidenz zu bestätigen. Hier gebe es zwar Bewegungstherapien, erzählt die Seniorin Gertrud Keim, doch fast niemand gehe hin.
Hinter Anna Halprins Arbeit steckt jedoch weit mehr als bloss Spass. «Wichtig ist, sich jeder einzelnen Bewegung bewusst zu werden», sagt sie. Entscheidend sei zudem die Emotion, die hinter der Bewegung stecke. Anna Halprin untermalt ihre Worte, indem sie sich mit trauriger Miene zusammenkauert, sich langsam aufrichtet, bis sie voller Lebensenergie ihre Arme ausstreckt. «Im Augenblick, wo zwischen Bewegung, Gefühl und Ausdruck eine Verbindung hergestellt wird, entsteht Kunst.» Und wie lernt man, eine Bewegung zu fühlen? «Durch Motivation und Training», sagt Anna Halprin. Besonders wichtig sei zuerst, dass jeder lerne, das Potential seines Körpers zu erkennen. Deshalb erkläre sie ihren Schülern bei jedem Bewegungsablauf genau, welche Muskeln oder Sehnen sich aufgrund welcher Bewegung dehnen oder strecken. «Wer seinen Körper genau kennt, schenkt ihm auch die nötige Aufmerksamkeit und lernt, ihn zu erfühlen.» Jetzt fordert die Performancekünstlerin zum gemeinsamen Tanz auf, und bald sind alle auf den Füssen, halten sich an Händen und Schultern, tanzen und lachen. «Erstaunlicherweise haben sogar die Männer mitgemacht», sagt die Bewohnerin Charlotte Klaus nach der Veranstaltung.
Später bittet Anna Halprin die Anwesenden, sich auf einem Blatt Papier zu notieren, was sie eben gefühlt haben, und diese Gefühle mit ihren jeweiligen Nachbarn zu teilen. «Selbst in der letzten Phase des Lebens müssen viele Menschen noch immer lernen, über ihre Emotionen zu sprechen», sagt sie. Die Fähigkeit, Gefühle zu offenbaren und sich über Tanz auszudrücken, führe dazu, dass die Menschen das Altwerden als natürlichen Prozess zu akzeptieren lernen und schliesslich mit dem Leben Frieden schliessen. Als sich der einstündige Workshop seinem Ende zuneigt, herrscht buntes Treiben in der Residenz: «Tanz und Musik machen einfach glücklich, schwärmt Erika Gähler. Die 88-Jährige besucht wöchentlich zwei verschiedene Tanzgruppen. «So viele Leute sind gekommen, und alle Hemmungen waren sofort verschwunden», sagt Gertrud Keim begeistert. Sie würde sofort wieder an einem Tanzworkshop teilnehmen. Vielleicht lässt der gar nicht so lange auf sich warten, denn das Tertianum möchte Anna Halprins Konzept fest in sein Programm aufnehmen.
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