Zum Glück gibt es «Felice». Das ist eine Schokoladenpraline, die das Leben nicht nur versüsst, sondern auch gleich verlängern soll. «Felice»-Erfinder Michael Klentze, Facharzt für Gynäkologie und psychotherapeutische Medizin in München, preist die Kugel auf seiner Website als «die erste Anti-Aging-Praline der Welt» an. Kosten: ein Euro pro Stück.
Klentzes österreichischer Kollege Markus Metka bläst mit «Hornydrink», was so viel heisst wie «lüsterner Trank», ins gleiche Horn: «Mit ‹Horny› ist ein Getränk gelungen, das mit reinen Vitalstoffen die körpereigenen Kräfte plus das Immunsystem stimuliert und aktiviert», lässt sich der Professor für gynäkologische Endokrinologie an der Universität Wien und Autor des Buchs «Der neue Mann» zitieren.
Die Anti-Aging-Medizin zur Verzögerung des Alterungsprozesses fasst auch in der Schweiz Fuss. Die empfohlene Therapie besteht meist aus einer Kombination von Hormon-, Vitamin- und Mineralstoffsubstitution, einer individuellen Ernährungsberatung, einem Sport- und Fitnessprogramm sowie spezifischen Übungen für das Gehirn.
Der Traum vom ewigen Jungbrunnen geistert von jeher durch die Köpfe der Menschen. Der erste biomedizinische Verjüngungsversuch geht auf den französischen Arzt Charles Edouard Brown-Séquared zurück, der sich 1889 eine tierische Hodensubstanz spritzte. Nach dem Selbstversuch liess er verlauten, er fühle sich 30 Jahre jünger. Fünf Jahre später war er tot. Noch einen Schritt weiter ging der Wiener Physiologe Eugen Steinach in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: Er verpflanzte seiner Kundschaft im Versuchslabor junge Hoden und Eierstöcke – und blieb so erfolglos wie Brown-Séquared.
Nur Japanerinnen leben noch länger
Alt sein will niemand, alt sind immer nur die anderen. Tatsache ist aber: Wir werden immer älter – so alt wie nie zuvor. Der Anteil der 80-Jährigen und Älteren in der Schweiz wird sich bis ins Jahr 2050 von 4 auf 8,5 Prozent mehr als verdoppeln. Szenarien des Bundesamts für Statistik gehen davon aus, dass sich die Zahl von heute 290000 Personen über 80 auf 608000 bis 720000 erhöht. Auch die über 90-Jährigen werden das Bild unserer Gesellschaft verstärkt mitprägen. Bis ins Jahr 2060 ist mit einer Zunahme von gegenwärtig 46000 auf 110000 bis 146000 zu rechnen. Der Megatrend der «Aging Society», wie der Zukunftsphilosoph Andreas Giger den demografischen Prozess nennt (siehe Nebenartikel «Keine Greisenherrschaft»), manifestiert sich schon heute: 40 Prozent der 1940 geborenen Frauen können mit 90 Lebensjahren rechnen. Die Schweiz ist punkto Lebenserwartung europäische Spitze. Weltweit leben nur die Japanerinnen länger.
«Diese starke Zunahme der Lebenserwartung ist historisch ein Novum», erklärt Altersforscher François Höpflinger vom Soziologischen Institut der Universität Zürich. Auch die offiziellen statistischen Szenarien hätten diesen Trend unterschätzt. Entsprechend fehlt es an Wirtschaftsstrukturen und Arbeitsmodellen, die das unersetzliche Potenzial an Kompetenz und Erfahrung auffangen und die späten Jahre mit Leben füllen.
Auch neue Wohnformen und individuelle Pläne für den Lebensabend sind gefragt. Gesellschaftlich habe man diese Entwicklung noch nicht im Griff. Höpflinger spricht von einer soziokulturellen Verjüngung. Trendforscher haben für das Phänomen eine Formel: Alter minus 15 Jahre. Demnach stehen die 65-Jährigen für die neuen 50-Jährigen. Prominente Beispiele dieser «Unterjüngung» sind etwa Sophia Loren, Roger Schawinski, Senta Berger, Tina Turner, Adolf Ogi oder Mick Jagger.
Jugendsünden wegbehandeln?
Die zusätzlichen Jahre hinterlassen ihre Spuren. Das Angebot, sie zu verwischen, ist so verführerisch wie noch nie. Die zumeist in den USA entwickelten Anti-Aging-Methoden werden immer ausgeklügelter. Weil im Wort «Anti» ein aggressiver Unterton mitschwingt, tauchen neue Begriffe wie «Better Aging» (besseres Altern), «Easy Aging» (unbeschwertes Altern), «Smart Aging» (schlaues Altern) oder «Successful Aging» (erfolgreiches Altern) auf.
Renzo Brun del Re, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe und Leiter des Brustzentrums des Lindenhofspitals in Bern, hat sich in den USA ein Bild gemacht über die dort praktizierte Anti-Aging-Medizin: «Ich habe Dinge gesehen und gehört, die in der Schweiz hoffentlich nie angewandt werden. Die Leute versprechen sich, durch Pillen und Spritzen die Folgen von Jugendsünden verhindern zu können. Dabei hat nur die Änderung des Lebensstils nachhaltige Wirkung bezüglich Alterserkrankung und Überleben.»
Um seinen Überzeugungen zum Durchbruch zu verhelfen, hat er mit gleichgesinnten Ärzten die Arbeitsgemeinschaft für Better Aging (SABA) gegründet. Sie soll Richtlinien zur Diagnostik und Behandlung ausarbeiten. Es sollen nur Untersuchungen durchgeführt werden, deren Resultate therapeutische Konsequenzen haben, und nur Behandlungen angeboten werden, die nachgewiesene positive Wirkungen haben, lauten zwei der Maximen.
Vor allem die Hormonsubstitution ist unter Fachleuten sehr umstritten. «Die Behandlung mit Hormonen macht Sinn, wenn ein krankheitsbedingter Mangel vorliegt», stellt Peter Diem, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie, klar. Das Alter an sich aber habe keinen Krankheitswert. Skeptisch stimmt Diem vor allem die Tatsache, dass keinerlei Daten vorliegen über die Langzeitfolgen einer Hormonbehandlung: «Ich rate zu grösster Zurückhaltung.»
Zu den Befürwortern der Hormonsubstitution gehört Fiorenzo Angehrn. Der Leiter der Klinik Piano in Biel nimmt in der Anti-Aging-Medizin für sich die Rolle eines Schweizer Pioniers in Anspruch. Seit rund zehn Jahren befasst er sich mit diesem Bereich, inspiriert haben ihn seine Besuche in den USA. Resultat dieser Auseinandersetzung ist das der Klinik Piano angegliederte «Swiss Health and Life Xtension Institute» – das «Tor zur ewigen Jugend», wie es in der Werbebroschüre heisst.
«Der ganz grosse Boom»
Die Anti-Aging-Medizin ruht für Angehrn auf drei Säulen: Bewegung, Ernährung, Hormone, wobei Letztere eine Schlüsselrolle spielen (siehe Nebenartikel «Der Nutzen überwiegt»). Fehlende Hormone oder zu tiefe Hormonspiegel sollten, so seine Überzeugung, angehoben werden, um schwerwiegende Erkrankungen und vorzeitiges Altern zu vermeiden. Angehrn: «Wir führen allerdings keine Langzeitbehandlungen durch, sondern beschränken uns auf sechs bis neun Monate und kontrollieren nachher den Zustand, der sich interessanterweise häufig normalisiert.»
Auch die Schönheitsklinik Artemedic in Olten hat den Anti-Aging-Trend für sich entdeckt. Ab September bietet das Institut eine neue Dienstleistung an: die Bestimmung des biologischen Alters. Gemessen werden neben verschiedenen Körperparametern wie Blutwerte auch die akustische und die visuelle Reaktionszeit oder die Lungenfunktion. Gestützt auf diese Werte, gibt der Arzt Empfehlungen zur Änderung der Lebensweise, verschreibt Vitaminpräparate oder Hormone. Die Kosten der so genannten Vitalitätsdiagnose: zwischen 500 und 3000 Franken – je nachdem, wie ausführlich sie sein soll.
Sascha Dunst, plastischer Chirurg und verantwortlich für die Einführung der Vitalitätsdiagnostik, hofft, dass das neue Angebot die Patientenbindung verstärkt. Er traut der Anti-Aging-Medizin in der Schweiz ein grosses Entwicklungspotenzial zu. «Die Krankenkassen werden auf Dauer nicht darum herumkommen, gewisse Leistungen der Anti-Aging-Medizin, die der Prävention dienen, zu übernehmen», prognostiziert er. Dann setze der ganz grosse Boom ein.
Tatsächlich spüren die Krankenkassen bereits die ersten Auswirkungen. «Industrie und Alterslobby machen Druck», sagt Nicole Bulliard, Mediensprecherin bei Santésuisse. Eine Ausweitung des Leistungskatalogs steht allerdings nicht zur Diskussion. «Die Krankenversicherer sind der Meinung, dass die Dienstleistungen der Anti-Aging-Medizin keine krankheitsbedingte Therapie darstellen. Sie gehören deshalb in die Eigenverantwortung jedes Einzelnen und nicht in den Leistungskatalog», so Bulliard.
Der Hunger nach Jugendlichkeit im Alter hat auch ein Heer von Marketingstrategen auf den Plan gerufen. Doch die so genannten Babyboomer (zwischen 1946 und 1964 geboren) lassen sich nicht so leicht an der Nase herumführen. Zwar ist die jetzige 50-plus-Generation finanziell so gut gebettet wie keine andere zuvor. Und von den 54 Prozent Seniorenhaushalten im Jahr 2010 werden sogar 16 Prozent über ein Einkommen von 75000 Franken und mehr verfügen. Nur: Die Hochkonjunkturkinder sind gewiefte Konsumenten, wie der Zukunftsphilosoph Andreas Giger meint. Er schätzt die jungen Alten als die «anspruchsvollste Zielgruppe» ein: «Es gibt keine grösseren Individualisten.» Dem so genannten Seniorenmarketing steht er skeptisch gegenüber.
Schon beim Wort Senioren rümpfen aktive Rentner die Nase. Am besten hole man sie über ihre Bedürfnisse wie Wellness oder Fitness ab, so Giger. Andreas Reidl von der deutschen Agentur für Generationenmarketing analysiert die Ansprüche der «Generation Silber» so: «Sie will authentische Botschaften und Produkte, die up to date sind.»
Seniorenmarketing auf Umwegen
Bei der Einführung neuer Produkte schleichen sich gewisse Unternehmen aber auch auf Umwegen an die kaufkräftige Zielgruppe heran, wie Altersexperte Höpflinger bemerkt. Speziell angereichertes Vitalfutter für ältere Haustiere soll deren Herrchen und Frauchen, die ebenfalls in die Jahre kommen, vom Nutzen von Long-Life-Nahrungsmitteln überzeugen.
Auch die Tourismusindustrie versucht, sich vom Vitalitätsmarkt ein Stück abzuschneiden. So ist der Anti-Aging-Trend aus Amerika mittlerweile auch in den Schweizer Bergen angekommen. Das Hotel Europa in St. Moritz bietet seit zwei Jahren Better-Aging-Wochen an. Montags gehts, noch vor dem Frühstück, zur Blutabnahme, am Mittwoch folgt, gestützt auf einen umfassenden Check-up, ärztliche Beratung. Hoteldirektor Armin Bützberger hat auf dem Hotelgelände eine Wachtelfarm eingerichtet, weil Wachteleier acht wichtige Aminosäuren enthalten sollen. Better-Aging-Programme bieten auch grössere Häuser wie das Grand Hotel Quellenhof in Bad Ragaz oder das Grand Hotel Victoria Jungfrau in Interlaken an.
Alten und älteren Menschen steht es frei, die soziokulturelle Verjüngung als Nabelschau oder als Chance zu verstehen. Ausschlaggebend für die Befindlichkeit im Alter sei die Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur bis ins 40. Lebensjahr, erklärt Höpflinger. Eine positive Grundhaltung in jungen Jahren werde auch das Alter bereichern. Mit gutem Beispiel voran geht die 73-jährige Buchautorin Judith Giovannelli-Blocher. In ihrem Buch «Das Glück der späten Jahre» bezeichnet sie das Alter als «Höhenweg» (siehe Nebenartikel «Man gewinnt dazu»).
Der Blick nach vorn zeigt sich auch am Bildungshunger. 90000 Rentnerinnen und Rentner halten sich an einer Seniorenuniversität geistig fit. 210000 Menschen profitierten letztes Jahr vom breiten Kursangebot der Stiftung Pro Senectute. Spitzenreiter waren die Bereiche Bildung und Altersvorsorge. Hoch im Kurs stehen auch Internet- und Handylektionen. Auch hier reden die älteren Semester mit. So hat jeder fünfte Deutsche zwischen 50 und 69 Jahren letztes Jahr im Web eingekauft – mit Vorliebe wurden Pauschalreisen online gebucht. Hier stellen die Älteren bereits ein Drittel aller Kunden. Von Ruhestand keine Spur. Dieses Wort widerstrebt der deutschen Altersforscherin Ursula Lehr: «Schlimmer ist nur noch die Ruhelage.»
Für das Alter als Chance spricht sich auch der deutsche Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx aus: «Gelassenheit, Reife, Kompetenz – das sind die Kernwerte der silbernen Revolution und einer Gesellschaft des verlängerten Lebens.» Tatsächlich fühlen sich die jungen Alten um das 70. Altersjahr in ihrer Haut am wohlsten – auf ihr ganzes Leben gesehen – und sind zufriedener als ihre Enkel, wie wissenschaftliche Studien zeigen. Zuversichtlich stimmt auch die Tatsache, dass fast vier Fünftel der 85- bis 89-Jährigen in der Schweiz ein selbstständiges Leben führen.
Mit der Lebenserwartung und der Vitalität nehmen auch Erfahrungsschatz und Kompetenzpotenzial der gesamten Gesellschaft zu. Doch die silbernen Ressourcen der jungen Alten liegen meist noch brach. Alt und Jung haben es in der Hand, sie gemeinsam zu vergolden.