Schicksalsschlag: Besser nach vorn statt rückwärts blicken
Eine schwere Krankheit, ein Autounfall, der Tod des Partners, Arbeitslosigkeit: Einschneidende Ereignisse können die Gesundheit ruinieren. Damit es nicht so weit kommt, sollte man nie die positive Lebenseinstellung verlieren. Haben Sie Vertrauen ins Leben?
Veröffentlicht am 22. September 2001 - 00:00 Uhr
Trudy Meyer sitzt in der Gaststube ihres Restaurants. Die 57-Jährige wirkt im Gespräch erstaunlich gelassen, obwohl ihre Kindheit stark belastet war. Als Trudy Meyer vier ist, wird ihre Mutter schwer krank. Der Vater bringt seine Tochter mit dem Velotöffli auf den Bauernhof der Grossmutter im französischen Jura. Am folgenden Morgen ist der Vater nicht mehr da. Mit zwölf kehrt sie zurück ins Luzernische, wird «de Franzos» genannt und vollkommen ausgegrenzt.
Doch sie findet ihren Weg, arbeitet als Serviertochter und macht die Wirteprüfung. Sie heiratet und übernimmt mit ihrem Mann eine Landbeiz. Später kaufen die beiden ein eigenes Restaurant. Trudy Meyer arbeitet Tag und Nacht – bis sich ihre Blutkrankheit wieder bemerkbar macht und sie in eine Erschöpfungsdepression fällt. In der Klinik lernt sie, endlich über sich und ihre Bedürfnisse zu sprechen.
Vor drei Jahren hat Trudy Meyer ihre Geschichte aufgeschrieben. Ihr Leben, sagt sie heute fast altersweise, habe sie nie als schwierig empfunden. «Es war einfach ein wenig anders als das der anderen.» Schwierigkeiten – davon ist sie überzeugt – bringen einen weiter. Aber man müsse sie selber lösen. Wenn sie etwas belaste, höre sie gut in sich hinein, schreibe es auf. Und rede darüber. Dann komme es gar nicht mehr zu grossen Krisen. Deshalb sind ihr auch «begleitende Freundschaften» wichtig.
Noch wichtiger sei allerdings, dass man sich selber gern möge, sich so akzeptiere, wie man sei. «Man macht sicher Fehler, aber man macht auch vieles gut.» Warum gelingt es Menschen wie Trudy Meyer, aus schwierigen Situationen immer wieder das Beste zu machen? Der 1994 verstorbene israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky glaubte, die Antwort gefunden zu haben: Anfang der siebziger Jahre analysierte er Aussagen von jüdischen Frauen, die die Konzentrationslager überlebt hatten. Dabei erstaunte ihn, wie gut sie ihre emotionale Gesundheit einschätzten. Daraus entwickelte er das Konzept der Salutogenese: Krankheit und Gesundheit sind keine klar trennbaren Zustände. Vielmehr versucht der Körper jeden Tag, ein gesundheitliches Gleichgewicht herzustellen. Das heisst: Wir haben zu jeder Zeit gesunde wie kranke Anteile in uns.
Zentral für die Fähigkeit, möglichst viele gesunde Anteile zu aktivieren, ist laut Antonovsky das so genannte Kohärenzgefühl. Dabei handelt es sich um ein heilsames Mass an Zuversicht, das wir vor allem in der Kindheit und in der Jugend entwickeln, im Sinn von: «Mein Leben ist stimmig; ich kann meine Probleme lösen; es lohnt sich, mich für gewisse Ziele zu engagieren.»
Gesundheitsorientierter denken
Gleichzeitig entwickelte sich Antonovsky zu einem scharfen Kritiker der herkömmlichen Medizin, die fast ausschliesslich auf Krankheit und Risikofaktoren ausgerichtet ist: «Ich gehe davon aus, dass wir alle eine lange Skipiste hinunterfahren, an deren Ende ein unendlicher Abgrund ist. Die krankheitsorientierte Medizin beschäftigt sich hauptsächlich mit denjenigen, die in einen Felsen fahren, mit einem anderen Skifahrer zusammenstossen oder in eine Gletscherspalte fallen. Zudem versucht sie, uns davon zu überzeugen, dass es das Beste sei, überhaupt nicht Ski zu fahren. Die gesundheitsorientierte Sichtweise beschäftigt sich damit, wie die Piste ungefährlicher gemacht werden kann und wie die Menschen zu sehr guten Skifahrern werden.»
Heute findet diese Sichtweise mehr und mehr Verbreitung – auch unter etablierten Medizinern. Der Winterthurer Orthopäde Luzi Dubs zum Beispiel stellt immer wieder fest, dass Menschen mit gleichen Leiden und gleichen Laborwerten unterschiedlich rasch genesen: Einige Patienten gesunden nicht, weil sie sich in konfliktbeladenen Lebenssituationen befinden. Andere lassen sich von der zunehmenden «Mess- und Normierungsmanie» irritieren, die in der Medizin um sich greift. «Oft genügt ein leicht abweichender Messwert, um die Leute krank zu machen. Dabei muss man doch fragen: Inwieweit ist so ein Wert tatsächlich krankhaft? Oder gehört er zur altersgemässen Streubreite?»
Dubs plädiert deshalb dafür, «das ärztliche Messzimmer vermehrt zum Sprechzimmer zu machen» und mit den Patienten jene Fragen zu diskutieren, die sie im Gesundungsprozess weiterbringen.
Dass die Ärzte tatsächlich umdenken müssen, hat auch die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften gemerkt. Sie arbeitet derzeit an einem Projekt mit dem viel versprechenden Titel «Neu-Orientierung der Medizin». Denn die Patienten, sagt Hans Heinrich Brunner, Präsident der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, verlangen von den Ärzten heutzutage nicht mehr bloss technisches Know-how, sondern zunehmend auch «existenzielles Wissen» als Orientierungshilfe. Gesundheitsförderung ist inzwischen zum wichtigsten Anliegen der Schweizer Bevölkerung avanciert, wie das «Sorgenbarometer 2000» des GfS-Forschungsinstituts zeigt.