Magisches Mittelmass
Langenthal ist eine Stadt, getarnt als Dorf. Mit ihrer Bescheidenheit erobern die Oberaargauer die Welt – und schütten nebenbei den Stadt-Land-Graben zu.
Veröffentlicht am 21. Juli 2022 - 20:51 Uhr
Als Langenthal vor drei Jahren mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet wurde, freuten sich die Bewohnerinnen und Bewohner nicht sonderlich. Sie fragten bloss: «Warum?»
Es gab eine kleine Feier in der Marktgasse, Risotto für alle, und Stadtpräsident Reto Müller versuchte den Leuten in einer Rede vor dem «Choufhüsi» zu erklären, weshalb der Heimatschutz ihre Gemeinde zu Recht in die Kränze gehievt habe.
Er sprach also von aufgewerteten Plätzen, von sorgfältig restaurierten Schulhäusern, vor allem aber sprach er – gegen eine Wand. Die Langenthalerinnen und Langenthaler interessierte das alles nicht. Man will hier nicht auffallen. Um keinen Preis.
Die Kino-Kontroverse
Dazu passt eine andere Geschichte, die sich in diesem Frühling ereignet hat. Beginnen tut sie schon im Jahr 2000. Damals rief das exzentrische Wirtepaar Rita Soom und Masi Marti ein Open-Air-Kino ins Leben. Die beiden gehören zu Langenthal wie die hohen Trottoirs. Sie sind beliebt und – im besten Sinn – ein bisschen verrückt. Ihre Bürostunden, so heisst es hinter vorgehaltener Hand, beginnen meist nach Mitternacht. Sitzungen halten sie für überbewertet.
Das lief so lange gut, bis Corona auch im Oberaargau wütete. 2020 durften vor dem «Choufhüsi» keine Filme gezeigt werden, 2021 verzichteten die Organisatoren aus Sicherheitsgründen auf die Aufführungen. Beim lokalen Gewerbe kam das gar nicht gut an.
Im April dieses Jahres knallte es: Sooms und Martis ehemalige Partner gründeten einen Verein und reichten ein eigenes Gesuch für das Freiluftkino ein. Zur gleichen Zeit, am selben Ort. Die Neuen hatten die Festbänke, die Beleuchtung und die Leinwand – und bekamen wohl darum von der Stadt den Zuschlag. Das Gewerbe hatte die Stadtoriginale ausgestochen – alles hatte wieder seine Normalität. Nicht auffallen. Um keinen Preis.
Woher kommt dieser Hang zum Mittelmass? Stapi Reto Müller stochert in seinem Linsen-Dal und sagt, leicht gelangweilt, weil er die Frage schon hundertmal beantwortet hat: «Leute, die zu schnell aufsteigen, werden hier relativ schnell wieder auf den Boden der Tatsachen geholt.» Es gebe in Langenthal durchaus Menschen, die Überragendes leisteten, diese Exzellenz werde aber nie zur Schau gestellt. «Man schaut, dass alles eingemittet bleibt.»
Langenthal ist klein genug, dass man sich auf der Strasse ein «Grüessech» zuwirft. Und gross genug, damit alle das tun können, was sie wollen. Mit 15'000 Einwohnern ist es längst eine Stadt, die Bewohnerinnen und Bewohner reden aber von ihrem «Dorf». «Bescheidenheit macht schön», sagt Stapi Müller. Zugleich sei es aber wohl auch ein Stigma des Ortes, dass hier alles stets nivelliert sein müsse. «Für Visionen ist man bei uns weniger empfänglich.»
Nachdem der Langenthaler Industriepatron und Freisinnige Johann Schneider-Ammann 2010 in die Landesregierung gewählt worden war, beeilten sich die Langenthaler, den Platz vor dem «Choufhüsi» in Bundesrat-Johann-N.-Schneider-Ammann-Platz umzutaufen und eine Erinnerungstafel ans Wahrzeichen im Stadtzentrum zu hämmern. Böse Zungen behaupten, das Vorhaben hätte einen ungleich schwereren Stand gehabt, hätte man damit bis zum Rücktritt des Magistraten Ende 2018 zugewartet. Für die meisten hier spielt aber auch das überhaupt keine Rolle. Für sie war und bleibt Schneider-Ammann einfach: «üse Hannes».
«Langenthal ist der beste Beweis dafür, dass der Stadt-Land-Graben nicht existiert. Denn wenn es ihn gäbe, gäbe es Langenthal nicht.»
Michael Hermann, Politologe, machte die Matura in Langenthal
Wenn man eine Linie zwischen Zürich und Bern zöge, eine weitere zwischen Basel und Luzern, würden sie sich ziemlich genau in Langenthal kreuzen, der Mitte des Mittellands. In den Neunzigern testete hier Coop, ob das Volk die Vollmilch auch in einem schwabbeligen Beutel kaufen würde. Tat es nicht. Versuchskaninchen sind die Langenthaler schon lange nicht mehr, dennoch hält sich das Gerücht hartnäckig, dass in der zwischenzeitlich als Designstadt gebrandeten «Metropole im Oberaargau» die durchschnittlichsten Schweizerinnen und Schweizer leben.
Party trifft auf Viehschau
Und es stimmt ja auch. Wie vermutlich nirgendwo sonst in der Eidgenossenschaft finden in Langenthal Stadt und Land zusammen. In der Markthalle wechseln sich Partys mit Viehschauen ab, auf Fasnacht folgt Streetfestival. Schweiz-Erklärer Michael Hermann, der in Langenthal die Matura gemacht hat, sagt: «Langenthal ist der beste Beweis dafür, dass der Stadt-Land-Graben nicht existiert. Denn wenn es ihn gäbe, gäbe es Langenthal nicht.»
Was die jüngsten Abstimmungsresultate als Bruchlinien in die Schweizer Karte gezeichnet hatten, müsse man wenn schon als «Grossstadt-Land-Graben» bezeichnen, findet Hermann. Wenn die SVP auf die Städte ziele, meine sie die woke links-grüne Politik, die progressiven Hochschulen, Multikulti und die Gender-Frage. Die rechte Kritik trifft aber in den meisten Fällen urban geprägte Agglomerationen und Kleinstädte wie Langenthal, wo die meisten Wählerinnen und Wähler im Land leben – und ist deshalb vermutlich ein Rohrkrepierer.
Die Stadt-Land-Kontroverse, die SVP-Präsident Marco Chiesa in seiner 1.-August-Rede im letzten Jahr losgetreten hatte, als er sagte, dass das Land die Städte durchfüttere, hält Simone Richner für gefährliches Wahlkampfgeplänkel: «Da wird Hass geschürt, wo gar kein Hass vorhanden ist.»
Richner ist eine stolze Heimweh-Langenthalerin, die für die FDP im Berner Parlament Politik macht. Wenn Freunde sie nach dem Geheimnis von Langenthal fragen, erzählt sie die Geschichte der Wässermatten: Langenthal ist von den Hügeln her gewachsen. In der Mitte, da, wo heute das «Choufhüsi» steht, war früher eine Sumpflandschaft. Der Fluss wurde gezähmt, die Bauern leiteten das Wasser genossenschaftlich mit einem ausgeklügelten Schleusensystem zur Bewässerung in die Felder und Matten. Danach wuchs der Ort von aussen nach innen. Hohe Trottoirs sollten die Gebäude fortan bei Hochwasser vor Schäden schützen. Diese Hügel, glaubt Richner, prägen die spezielle Langenthaler Mentalität bis heute. «Obrigkeitsglaube ist hier nicht verbreitet.»
Negative Schlagzeilen
In Langenthal ist vieles möglich, was anderswo undenkbar wäre. Im Guten wie im Schlechten. Während in Bern manche die Nase rümpfen, wenn sie an der Reithalle vorbeifahren, sitzt in Langenthal ein Vertreter des autonomen Jugendzentrums Lakuz in der Regierung. Gleichzeitig machte Langenthal schweizweit Negativschlagzeilen, als 2004 überraschend ein Vertreter der rechtsextremen Partei Pnos ins Stadtparlament gewählt wurde. Auf diese Peinlichkeit angesprochen, sagen SP-Stapi Müller und FDP-Politikerin Richner unisono: «Wir sind froh, dass es vorbei ist.»
Aus seinem Ruf, ein «Durchschnittskaff» zu sein, macht Langenthal eine Tugend. Das Eingemittetsein mache gelassener und offener gegenüber Andersartigem, sagt Simone Richner. In Bern, wo manchmal gestalterischer Einheitsbrei herrsche, alles genormt werde und geregelt, könne eine Prise Oberaargauer Rebellinnentum nicht schaden.
Einer der bekanntesten Söhne der Stadt, der Schriftsteller Pedro Lenz, sagte in einem Radiointerview einmal, es gebe wohl nirgends so viele «glatti Sieche» wie in Langenthal. Weil es im Ort keine Szenebeizen gebe, müsse man mit allen auskommen. «Das macht offener.»
Eine Offenheit, die nicht immer sofort aufblitzt. Ein Treffen zweier Langenthaler in einer Bar, das genau so stattgefunden hat:
«Säg, wie geits?»
«Es muess.»
«Was machsch?»
«Was me haut so macht.»
«Was macht me haut so de?»
«Jo, dieses u eis.»
Die Langenthaler, sagt Stapi Reto Müller, gingen nicht mit offenen Armen durchs Leben. Wer aber einmal in ihrer Mitte angekommen sei, wolle nie mehr weg von hier. In der inoffiziellen Stadthymne heisst es: «Üses Härz lit – mir wüsses genau – für immer und ewig, in Langethau.»
Pestalozzis Predigt verhallte
Es bleibt die Frage, ob es sich beim Stadt-Land-Konflikt bloss um ein von den Medien zum Graben herbeigeschriebenes Sommerloch handelt. Einer, der, lebte er denn noch, diese Aussage ganz klar verneinen würde, ist Johann Heinrich Pestalozzi. Am 26. April 1826 hielt der berühmte Pädagoge ausgerechnet in Langenthal eine Rede anlässlich der Jahresversammlung der Helvetischen Gesellschaft. Darin prangerte er die Industrialisierung an, die ihren Ursprung in den Städten genommen hatte. Er geisselte das «Gesindelleben der Menge» und den «Leichtsinn des Zeitgeistes». Kurz: Er malte einen Stadt-Land-Graben als Teufel an die Wand – und nannte als Heilmittel dagegen, ganz so, wie es die SVP bis heute tut, eine Besinnung aufs Vaterländische, um die «reinen Kräfte unserer altschweizerischen Denkungsart und Handlungsweise in unserer Mitte von neuem zu beleben».
Die Langenthaler haben natürlich nicht auf Pestalozzi gehört. Sie bauten Bagger (Ammann), eroberten mit unzerstörbaren Tellern und Tassen die Welt (Porzellanfabrik), bespannten mit ihren Stoffen die Sitze praktisch sämtlicher Airlines (Lantal). Oder, wie sie im Dorf selbst sagen würden: Sie machten dieses und jenes.
Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».
Zum 1. August widmen wir eine Beobachter-Ausgabe ganz der Schweiz: Unsere Redaktorinnen und Redaktoren sind für «Hallo Helvetia» zu Entdeckungsreisen ausgeschwärmt und zeigen ein facettenreiches Bild unseres Landes im Jahr 2022.
Sie haben interessanten Stoff für zahlreiche Berichte gesammelt: Gespräche mit spannenden Menschen, überraschende Entdeckungen, Einblicke in aktuelle Entwicklungen und schwelende Konflikte. Es geht um Heimat und Identifikation, um Trennendes und Verbindendes.
1 Kommentar
Sehr lesenswerter Bericht, besten Dank