Das Land der tausend Tümpel
Stundenlang wandern – begleitet von Erinnerungen an unbeschwerte Tage mit der Familie am Wasser.
Veröffentlicht am 21. Juli 2022 - 20:52 Uhr
Wieder ein Gähner. Schon der dritte, ich habe mitgezählt. «Äxgüsi», tönt es aus der Reihe hinter mir, Schifffahren mache schläfrig. Dabei stehen wir noch still am Steg. Meine Fussspitzen berühren den Rollator des Herrn, zwischen Rettungsring und Klappstuhl geklemmt. Bald gähnen wir im Kanon, bis der Motor mit einstimmt. Bis wir Solothurn verlassen und meine Reise beginnt.
Der Weg: immer der Aare entlang. Das Ziel: der Bielersee. Irgendwann, in ein paar Stunden.
Auf dem Schiff gelten unausgesprochene Regeln. Erstens: Draussen herrscht Ruhe. Zweitens: Winkt einer vom Kanu, winken alle zurück. Drittens: «Oh!» unisono, wenn Schwan und Schiff fast kollidieren. Als in Altreu der Motor verstummt, gähnt es hinter mir. Als ich von Bord gehe, nicke ich, die Runde nickt zurück. Schiffsregel Nummer vier.
Im Wasserschloss
An Land wirkt alles wie ausgestorben. Im «Grüene Aff» trinkt keiner Kaffee, im Storchendorf hält niemand Ausschau. Montagmorgen, was habe ich erwartet? Ich bin auf mich allein gestellt. Ein Tag am Wasser – ohne Begleitung, ohne Ablenkung.
Keine halbe Stunde vergeht, schon werde ich sentimental. Vielleicht weil ich allein gehe, das tue ich selten. Vielleicht liegt es auch am Wasser. Gibt es Schweizer, die keine Erinnerungen an Bäche oder Bergseen haben?
Wasser verbindet uns, wortwörtlich. Städte mit abgelegenen Tälern, zerklüftete Berge mit Dörfern. Es lässt uns baden, fischen, entspannen. Es macht uns stolz. Die Bernerinnen aufs Aareböötlen, die Schaffhauser auf ihren Wasserfall, die Zürcherinnen auf ihren Stadtsee. Wenn ich ans Wasser denke, denke ich an meine Kindheit. An lange Sommertage in der Badi.
Solero Exotic, saure Schlangen, Snacketti-Chips. Der Blutegel in der Ferse meiner besten Freundin. Hotdogs mit Ketchup, Ketchup mit Pommes. Der Schleier aus Sonnencreme, ein Regenbogen im Wasser. Immer reinspringen, nie «annetzen». Der Abdruck der Taucherbrille, ein Bienenstich am Bein. Schleckstängel, Eistee, Schnitzelbrot. Der erste Sprung vom Fünfmeter; die Angst davor, die Euphorie danach.
«Grüessech!», reisst mich ein Velofahrer aus den Gedanken. Er bessert die Statistik auf: Schwäne 16, Menschen 9. Auf einer Bank im Schatten streiche ich Sonnencreme über den Schweiss und google die Aare. Was ich mir merken kann: Sie ist der längste Fluss, der nur in der Schweiz fliesst. Sie führt durch drei Kantone, von einem Gletscher bis in den Rhein. Aareschwimmen steht auf der Unesco-Liste, der Schriftsteller Pedro Lenz kenterte während eines SRF-Drehs mit dem Kanu.
Fröhliches Forellenfangen
Lange laufe ich Schwäne zählend. Menschen fehlen, nichts passiert, alles ist schön. Nahe Rüti bei Büren finde ich Stühle im Schatten. Ein kleiner Holzschuppen und ein Festzelt. «Fischereiverein Rüti-Arch-Leuzigen», steht da. Und wieder erinnere ich mich.
Fischerwesten mit tausend Taschen. Ein kleiner Koffer voll glitzernder Schätze, Gummiköder und knallige Wobbler. Auf dem Boot spricht man nicht, das hören die Fische. Fette Würmer, zappelige Mädli. Eine Forelle im Bergsee, mit blossen Händen gefangen. Glänzende Schuppen, kleine Regenbogen unter den Fingernägeln. Mitleid haben, die Fische befreien, Schimpfe kassieren. Ohren zu, wenn der Knüppel die Fischköpfe trifft. Augen zu, wenn die Männer ihre Beute ausnehmen. Der Grossvater, der Vater, der Bruder.
«Grüessech», reisst mich ein Fischer aus den Gedanken. Er räume hier auf, am Wochenende sei Fischfest gewesen. «Was tut man da?», frage ich. «Na, Fisch essen», antwortet er. 250 Kilo, alles weg. «Was für Fisch?», frage ich und vergesse die Antwort gleich wieder.
Fluss, Feld und arme Füsse
Bald verschwinden auch die Schwäne. Ich denke an den Film «Cast Away», in dem ein Verschollener (Tom Hanks) mit einem Volleyball («Wilson») spricht. Ich summe ein bisschen, alles ist schön. Am Mittag google ich weiter. Was ich mir merken kann: Alle Schweizer Gewässer zusammen nehmen vier Prozent der Landesfläche ein. Alle Bäche und Flüsse sind 65'000 Kilometer lang – genauso lang wie die Wanderwege.
Irgendwann verfalle ich in einen Trott. Der Fluss links, das Feld rechts – ich nehme das alles kaum noch wahr. In Solothurn hat einer Zimtsohlen am Markt verkauft, gegen brennende Füsse und Fussschweiss. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Ich gähne und denke an den Rentner auf dem Schiff. Nun ist er in Biel, der Glückliche. Bei Brügg sehe ich drei Schwimmerinnen in roten Badanzügen, mit farbigen Gumminudeln. Ich denke an mein verstorbenes Grosi.
Die Picknickdecke beim Schilf am See. Das Grosi im Wasser, jeden Tag im Sommer. Ein verblichener Badanzug, die grosse Sonnenbrille. Ihr Tanz durchs Wasser, die Zehen im Schlamm. Die Finger nach vorn, die Ellbogen zurück. So machen es alle, das hatte sie beobachtet. Goldene Haare, die Finger voller Ringe. Mein Grosi konnte nicht schwimmen. Wir verrieten ihr nie, dass wir ihr Geheimnis kannten.
«Grüessech» ruft niemand mehr. Oder ich höre nicht hin, in Gedanken versunken. Alles ist schön. Vielleicht weil ich allein gehe, das tue ich selten. Vielleicht liegts auch am Wasser. Plötzlich stehe ich in der Badi in Biel.
Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».
Zum 1. August widmen wir eine Beobachter-Ausgabe ganz der Schweiz: Unsere Redaktorinnen und Redaktoren sind für «Hallo Helvetia» zu Entdeckungsreisen ausgeschwärmt und zeigen ein facettenreiches Bild unseres Landes im Jahr 2022.
Sie haben interessanten Stoff für zahlreiche Berichte gesammelt: Gespräche mit spannenden Menschen, überraschende Entdeckungen, Einblicke in aktuelle Entwicklungen und schwelende Konflikte. Es geht um Heimat und Identifikation, um Trennendes und Verbindendes.