Von Ferien in Locarno oder Jesolo abgesehen, kannte ich meinen ersten zwanzig Jahren nichts anderes als Davos. Genauer gesagt Davos Platz, die grösste Siedlung des Landwassertals.

Als ich aufwuchs, musste Davos sich neu erfinden. Wo bleiche Tuberkulöse gehustet hatten, übernahmen in den Sechziger- und Siebzigerjahren Braungebrannte den Ort. Mit ihren kräftigen Körpern hatten sie Appetit auf alles, was junge Leute am attraktivsten finden: Sex, Drogen und Rock 'n' Roll.

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Und ich war mittendrin. Sowohl in der Pubertät wie im Geschehen. Sport war Gott, Davos war jung und sexy. Ich stand jeden Tag auf den Skiern oder auf den Kufen, zum Skiberg Jakobshorn waren es bloss wenige Schritte, das Eisfeld lag gleich neben dem kleinen Hotel, das meine Eltern führten.

Jedes Wochenende schwemmte es neue Abenteuerlustige an. Sie hatten Geld und Lust. Ich hatte nur Lust. Ich konnte mir in den Dancings, wie sie damals hiessen, allenfalls eine Cola leisten. Wenn sie mich, den Bubi, überhaupt hineinliessen. Es gab eine Alternative.

In der Personalwohnung meiner Eltern feierte ich mit Kirsty, Willie, Jane und Paul so lange Partys, bis der Rektor der Mittelschule meinem Vater schrieb, meine Promotion sei gefährdet. Ohne Erfolg. Ich musste eine Klasse wiederholen. Das kam mir vor wie eine Aufforderung, eine weitere Partyrunde zu drehen.

Eine Italienerin ohne Führungsqualität

Meine Eltern haben sich in Davos kennengelernt. Sie Holländerin, auf Besuch, ihr Bruder zur Kur. Er hatte Asthma. Eines Tages heirateten meine Eltern, meine Mutter zog nach Davos.

Hinter dem Hotel meiner Eltern lagen Kindergarten, Primarschule, Sekundarschule, Mittelschule. Eines Tages wurde meine Klasse zum European Management Symposium eingeladen. So hiess damals das WEF alias World Economic Forum. Gegründet 1971.

Es fand im neuen Kongresshaus statt. Das hatte Davos sich klugerweise bauen lassen. Dort trafen sich deutsche Ärzte und Schweizer Gewerkschafter und die Zeugen Jehovas und eines Tages auch die Manager. Ich war mehrmals Gast am WEF.

An einen Vortrag erinnere ich mich. Am Pult stand Susanna Agnelli, Erbin des Fiat-Autokonzerns. Sie sagte: «Sehr geehrte Damen und Herren, ich bin hier, weil ich angefragt wurde, um über Führungsqualität zu sprechen. Ich habe keine. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.»

Ein kurzer Schock, dann fiel der Saal vor Verblüffung und Gelächter und wildem Klatschen fast auseinander.

Damals war das WEF noch überschaubar. Einer von vielen Kongressen. Zahnärzte. Chirurgen, was immer. Sie füllten die Hotels. Auch unseres. Heute belegt allein die WEF-Crew Hunderte von Ferienwohnungen. Die Preise explodieren zum Kongress. Sogar Heizungskeller mit herbeigeschleppter Duschkabine finden Abnehmer, zumindest kurzfristig.

Botschaften nur gegen Vorkasse

Unser Hotel lag unterhalb der Arkaden. Die Arkaden sind Wandelhallen, die auf drei Seiten einen Platz begrenzen. Im Sommer lief dort ein Springbrunnen, im Winter sassen die Kurgäste in der Sonne. Es gab einen Pavillon, in dem jeden Tag ein Orchester spielte. Der Platz wurde zum Parkplatz. Ich kannte die Arkaden nur als Parkplatz.

Gegenüber stand das Kurhaus, ein Grandhotel mit Theater. Im Stil einer Buttercremetorte. Heute? Beliebig. Nun dreht Davos das Rad zurück. Die Arkaden wurden letztes Jahr autofrei. Sie sollen dem Ort als «Kulturplatz» neues Leben einhauchen.

Angestellte in Davos begrüssen einen Gast – Rechts: Blick auf das Hotel Ammann in Davos

Nach ein paar Wochen ohne Fremde freut man sich in Davos wieder auf Gäste (links, 1964). 21 Franken kostete die Übernachtung im Hotel, in dem unser Autor aufwuchs.

Quelle: Keystone / Privat

Wo immer eine Wiese war, auf der ich eine Dose Haarspray meiner Mutter in die Luft sprengte, steht heute ein Block oder ein Parkplatz. Auch das kleine Hotel meiner Eltern gibt es nicht mehr. Sicher haben meine Eltern vom WEF ebenso profitiert wie viele andere in Davos. «Es profitieren mehr vom WEF als nicht», sagt meine Schwester, die ihr ganzes Leben in Davos verbracht hat.

An einen Ratschlag kann ich mich gut erinnern. An Botschaften wurden nur gegen Vorkasse Zimmer vermietet oder Essen serviert. Es waren zu viele Hoteliers auf offenen Rechnungen sitzen geblieben. An etwas anderes ebenfalls. Alle Hoteliers wussten: In 100 Tagen musste der Umsatz fürs ganze Jahr in der Kasse sein.

Während andere Kongresse überschaubar blieben, wuchs und wuchs das WEF. Und damit auch die Kritik an den Auswüchsen. Wegen des WEF steigen Mieten und Preise für Wohnungen und Geschäfte, hört man. Die Promenade – das ist die 3,5 Kilometer lange Aorta von Davos – werde immer unattraktiver. Dass wegen des WEF die Davoser Kinderschlittenfahrt um eine Woche in den Februar verschoben wurde, sei noch das kleinste Übel.

Sicherheit während dem WEF: Polizist mit Feldstecher auf dem Dach eines Davoser Hotels
Quelle: Keystone

Tatsächlich sind die Preise für Eigentumswohnungen in Davos kräftig gestiegen. Daran haben aber auch die Pandemie und die Möglichkeit zum Arbeiten im Homeoffice ihren Anteil. In fünf Jahren wurden Eigentumswohnungen 66 Prozent teurer. Pro Quadratmeter zahlte man im zweiten Quartal 2022 mehr als 15'000 Franken – so viel wie in der Stadt Zürich.

Wer in Davos eine Wohnung besitzt, kann während des WEF für vier Zimmer nahe beim Kongresshaus durchaus 13'500 Franken verlangen. Pro Tag. Bei einer Mindestdauer von fünf Tagen. Aufs Jahr umgelegt, macht das über 5600 Franken pro Monat. Wenn die Chefs am WEF mit ihren Boni in Millionenhöhe der Welt das Funktionieren des Kapitalismus vorführen, warum soll man seine eigene Gier zügeln?

Gerne würden junge Familien wieder nach Davos ziehen. Aber bei diesen Preisen finden nicht einmal gut zahlende Kliniken wie jene in Davos Wolfgang akzeptablen Wohnraum für ihr Personal. Die Folge: Die Bevölkerung von Davos nimmt seit Jahren leicht ab.

Und warum soll man Einheimischen einen Laden an der Promenade vermieten, wenn die WEF-Leute die ganze Jahresmiete für ein paar Wochen zum Auf- und Abbau ihrer Scheinwelt überweisen? Von den Edelmarken blieben im einstigen Weltkurort Davos bloss Bally und Rolex übrig.

Lokale Lebensmittler oder aufregende Shops für Junge wurden längst ersetzt durch mässig attraktive Büros von Banken, Galerien, Immobilienfirmen, Krankenkassen, Versicherungen. Oder die Geschäfte bleiben vor und nach dem WEF so dicht wie die Rollläden der Wohnungen.

Wenn eine Liegenschaft der Gemeinde gehört, dann darf ein Geschäftslokal nicht weitervermietet werden. Andere sind da weniger zimperlich. Sogar das Kirchner-Museum vermietet dem WEF seine Räume. Es wird von einer Stiftung geführt. Die frühere anglikanische Kirche öffnet ihre Türen ebenfalls dem Mammon, mahnt aber auf einem Plakat vor dem Gotteshaus: «Werdet nicht müde, Gutes zu tun.»

Wenn das WEF vorbei ist, erholt sich die Promenade von ihrem Merz-Infarkt, und die Einheimischen zählen ihr Bündel Banknoten. Davos mit seinen rund 6200 Betten in den Hotels und 7700 Betten in den Ferienwohnungen erwirtschaftet jedes Jahr rund 900 Millionen Franken.

Der Alltag unter Fremden

Nach Ostern sind alle froh, dass Hektik und Partys zu Ende sind. Der Ort fällt zusammen wie ein Ballon, die Einheimischen zischen ab. Bis Pfingsten ist Zwischensaison. Der Davosersee wird aufgefüllt, und die braunen Wiesen werden grün.

Nach ein paar Wochen allein unter Einheimischen freuten wir uns dann wieder auf die Gäste. In meiner Jugend hörte ich oft: «Lieber Fremdenverkehr als gar keinen.»

Es gibt Schlimmeres, als in einem 24-Stunden-Betrieb wie einem Hotel aufzuwachsen. Wir Kinder trugen nie einen Schlüssel um den Hals. Unsere Eltern waren da. Wenn auch nicht ständig für uns. Wir wurden rasch selbständig. Wir wussten uns in einem Raum mit vielen Leuten zu bewegen und uns zu wehren. Wir beklagten uns nicht, wenn die Eltern uns Arbeit zuteilten. Egal, welche. Arbeit ist Arbeit, keine ist besser oder schlechter.

Dann die Sprachen. Angestellte wie Gäste von überallher. In meiner Jugend lernte ich, das Menü auf Französisch zu präsentieren, Weine auf Englisch zu empfehlen, auf Italienisch zu flirten, auf Serbokroatisch zu fluchen, meiner Mutter auf Holländisch mehr Taschengeld abzuluchsen und auf Davoserdeutsch meinen Rabatt als Einheimischer einzufordern.

Nun ist in Davos ein Grossprojekt in Planung, das viele Probleme aufs Mal lösen soll. Der Bahnhof Davos Dorf soll 400 Meter versetzt werden. Dafür wird das kleine Seeli beim Ortseingang geopfert. Auf dem Areal und den Parkplätzen daneben sollen bis zu 100 bezahlbare Wohnungen für Einheimische gebaut werden. Und zwar nicht in 08/15-Architekturkisten, versichert der Entwickler. Bis dahin gehen sicher fünf oder mehr Jahre ins Land.

Ich fragte einen 80-jährigen Davoser, ob er sich je überlegt habe, woanders zu leben. Er war in Kanada, in Saudi-Arabien, in Thailand. Er sagte: «Ich? Nein. Nie.»

Dieser Artikel ist Teil der Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia».

Über die Beobachter-Sonderausgabe «Hallo Helvetia»

Zum 1. August widmen wir eine Beobachter-Ausgabe ganz der Schweiz: Unsere Redaktorinnen und Redaktoren sind für «Hallo Helvetia» zu Entdeckungsreisen ausgeschwärmt und zeigen ein facettenreiches Bild unseres Landes im Jahr 2022.

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